«Eine Grenze besitzt nur das Land, nicht aber die Nation!»

Ungarn hat den Verlust des alten Imperiums nicht verwunden

Der Vertrag von Trianon gilt nicht nur in Budapest als Diktatfrieden nach dem Ersten Weltkrieg. Doch Viktor Orban treibt die Bewirtschaftung der Ressentiments bis heute fast auf die Spitze.

Die ungarische Delegation trifft am 4. Juni 1920 in Trianon zur Unterzeichnung des Friedensvertrags ein.

Die Kriege des 20. Jahrhunderts haben Europa von einem imperial geprägten Raum in einen Flickenteppich aus Nationalstaaten verwandelt. Besonders im Zentrum und im Osten des Kontinents verschoben sich Grenzen – manchmal durch Verhandlungen, oft genug durch Waffengewalt und Siegerjustiz. Der europäische Einigungsprozess seit dem Zweiten Weltkrieg hat viele Territorialkonflikte friedlich gelöst.

Verschwunden sind die daraus entstandenen Ressentiments nicht. Zwar stellen nur noch rechte Ewiggestrige die Oder-Neisse-Grenze infrage oder fordern die Rückkehr von Südtirol nach Österreich. Revisionistische Forderungen auf Regierungsebene gibt es in der EU kaum mehr. Und doch behandelt besonders Ungarn den Phantomschmerz über die verlorene vergangene Grösse als Staatsräson. Viktor Orban weiss, dass er mit der Pflege der Empörung über den Vertrag von Trianon einem grossen Teil seiner Bevölkerung aus dem Herzen spricht.

Verlust von Ungarns «Wiege der Nation»

Das am 4. Juni 1920 unterzeichnete Abkommen war ein Diktatfrieden nach dem Ersten Weltkrieg. Das Königreich Ungarn, das sich unter den Verlierern befand, wurde auf einen Schlag vom Imperium zum Kleinstaat: Es büsste 70 Prozent seines Territoriums und 62 Prozent der Bevölkerung ein. Während die Ungarn die Abtrennung der westlichen Gebiete relativ leicht verkrafteten, war vor allem der Verlust Siebenbürgens im heutigen Rumänien traumatisch. Der Karpatenbogen, zu dem auch die ukrainische Region Transkarpatien gehört, besitzt einen ähnlichen Status als «Wiege der Nation» wie Kosovo für Serbien.

Über drei Millionen ethnische Ungarn fanden sich in neuen Staaten wieder, oft benachteiligt und unterdrückt, wenn auch nicht systematisch verfolgt. Ihre «Rückholung» blieb über Jahrzehnte eine Obsession der Politik in Ungarn. 1938 und 1940 marschierte der Diktator Miklos Horthy mit Unterstützung der deutschen Nationalsozialisten in Teile der Gebiete ein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand Ungarn aber ein weiteres Mal auf der Verliererseite.

Adolf Hitler verabschiedet sich von seinem ungarischen Verbündeten Miklos Horthy (Bild von 1941).

Die von der Sowjetunion gestützten Sozialisten, die nach 1945 die Macht übernahmen, gingen mit Trianon um wie mit allen historischen Minenfeldern: Sie überdeckten sie mit Parolen über Völkerfreundschaft, die mit jeder Wiederholung inhaltsleerer wurden. Im imperialen Budapester Parlamentsgebäude überdeckten sie Wandbilder und die Wappen der Länder der heiligen ungarischen Stephanskrone.

Doch wie fast überall im postsowjetischen Raum ging die Nationsbildung Hand in Hand mit der Wiederentdeckung der eigenen Geschichte. Ungarn verfügte über einen besonders reichen Fundus – an Familienerinnerungen und Traumata, politischen Vorbildern und Helden. Zunächst spielte die vergangene Grösse aber aussenpolitisch keine Rolle: Im Interesse der Annäherung an Europa und der guten Nachbarschaft verpflichteten sich die Regierungen zur Aussöhnung und zur Anerkennung der Grenzen.

Ungarn mischt sich bei den Nachbarländern ein

Viktor Orban hingegen deutete den mit Trianon verbundenen Verlust entschlossen zu einem neuen nationalen Mythos um. Nach seinem Machtantritt 2010 machte er den 4. Juni zum Tag der nationalen Zusammengehörigkeit. Seither hat seine Regierung ungarische Pässe an mehr als eine Million ethnischer Landsleute verteilt. Viele von ihnen sind seither in die alte Heimat zurückgekehrt – und oft genug gleich noch weiter Richtung Westen in wohlhabendere EU-Länder gezogen. Die ungarischen Gemeinden in der Ukraine und in Rumänien sind stark geschrumpft.

Dass sich Budapest nicht um Gesetze in den Nachbarstaaten schert, die in der Slowakei und der Ukraine die doppelte Staatsbürgerschaft verbieten, führt ebenso zu Spannungen wie der Einfluss, den es auf Parteien und Medien nimmt. Der fussballbegeisterte Orban selbst tauchte unlängst mit einem Grossungarn-Schal an einem Länderspiel auf. Die Slowakei nannte er ein «abtrünniges Territorium».

Viktor Orban an einem Länderspiel gegen England mit einem Schal, der in diesem Fall aber nicht die Umrisse Grossungarns zeigt.

Ungarns Nachbarschaftspolitik hat sehr unterschiedliche Folgen. Dort, wo wie in Serbien ein ideologischer Verbündeter an der Macht ist, zelebriert man die Partnerschaft in migrationspolitischen und weltanschaulichen Fragen. Mit Robert Fico wurde jüngst ein Politiker Regierungschef der Slowakei, der sich stilistisch und inhaltlich eng an Orban anlehnt, gerade in der Ukraine-Politik.

Wegen der ständigen Einmischung sind die Beziehungen zu Rumänien hingegen seit Jahren schlecht. Das Verhältnis mit Kiew befindet sich auf dem Tiefpunkt: Zu den Streitereien über Minderheitenrechte und die wirtschaftliche Vernachlässigung der ethnisch ungarischen Gebiete in den Staaten kommen hier die prorussische Rhetorik der Regierung in Budapest und deren Darstellung der Ukraine als künstlicher Staat.

Ungarns Nation reicht über die Staatsgrenzen hinaus

Woraus sich dieses Gedankengut speist, zeigte Orbans Rede zur Einweihung des Trianon-Denkmals am 20. August 2020. Das Monument im Stil des Berliner Holocaust-Mahnmals wurde zum 100. Jahrestag des Friedensvertrags eröffnet. An seinen Wänden stehen alle Ortsnamen der ehemaligen Stephanskrone – nicht die heutigen, sondern die ungarischen aus dem Jahr 1913, die damals im Rahmen einer aus Budapest gesteuerten Kampagne eingeführt wurden.

Dem Kollaps des Imperiums seien «100 Jahre ungarische Einsamkeit» gefolgt, sagte Orban. Sein Land habe nie auf Verbündete zählen können. «So ein Volk muss in jeder Minute um seine Souveränität und seine Freiheit kämpfen.» Erst nach vielen «Tränen und Blut» habe es endlich erkannt: «Eine Grenze besitzt nur das Land, nicht aber die Nation!»

Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Trianon verlässt die ungarische Delegation erniedrigt das Schloss bei Paris.

Mit der Unterscheidung zwischen der völkerrechtlich definierten Grenze eines Staats und der identitär bestimmten einer Nation begibt sich Orban auf heikles Terrain. Er leitet daraus einen historischen Führungsanspruch im Karpatenbecken ab. Ungarn finde nun endlich «den Pfad der alten Grösse wieder», sagte er während seiner Rede, in der er auch die patriotische Rolle des Militärs mehrfach betonte.

Manche Politiker in Nachbarländern nehmen diese Rhetorik durchaus als Bedrohung wahr. So warnte der bis Mai amtierende slowakische Aussenminister Rastislav Kacer jüngst vor Orbans «nationalistischen, irredentistischen und revisionistischen» Ideen, die ihn an einen Kongress der NSDAP erinnert hätten. Russlands Invasion in die Ukraine habe gezeigt, dass solche Worte reale Folgen haben könnten.

Die imperiale Nostalgie der Ungarn

Vergleichbar mit Russland ist Ungarn allerdings schon wegen seiner geringen Grösse und seiner schwachen Armee nicht. Zudem folgt Orbans Aussenpolitik stets innenpolitischen Motiven. Mit der Bewirtschaftung des Trianon-Traumas erreicht er eine breite Bevölkerungsschicht, die aus dem Kleinstaat mit Nostalgie auf die einstige imperiale Grösse blickt. Die gröberen Provokationen gegen die Nachbarn sollen den rechten Rand der Wählerschaft bedienen.

Dabei ist es bezeichnend, dass Ungarns Regierung nie revisionistische Forderungen erhob. Ein Austritt aus EU oder Nato ist tabu, und diese Ordnungsstrukturen sorgen dafür, dass regionale Konflikte nur bis zu einem gewissen Grad eskalieren können. Auch dies ist anders als in der Ukraine, die sich seit dem Ende der Sowjetunion in einer geopolitischen Grauzone befindet und deshalb verwundbar bleibt.

Ein Spiel mit dem Feuer sind Orbans Worte dennoch. Auch wenn er realpolitisch stets pragmatisch handelt, untergräbt der Ministerpräsident rhetorisch gezielt die Legitimität der Ordnungsstrukturen, in denen das Land sich bewegt, etwa durch die Fundamentalkritik an Brüssel, Sanktionen und den USA. Die ständige Wiederholung imperialistischer Slogans schafft eine aufgeheizte Atmosphäre, die längerfristig schwer kontrollierbar werden kann.

Dabei kann Ungarn aus nächster Nähe mitverfolgen, was passiert, wenn westliche Soft Power erodiert: So haben die Zwischenfälle zwischen Serbien und Kosovo oder die Spannungen in Bosnien-Herzegowina in dem Masse zugenommen, wie die EU an Einfluss und Anziehungskraft verliert. Die Konflikte auf dem Balkan und der Krieg in der Ukraine drehen sich letztlich um das Spannungsverhältnis zwischen heutigen Staatsgrenzen und dem Anspruch, die vermeintlichen Angehörigen der Nation zu integrieren, die ausserhalb von diesen leben.