Stehen wir am Ende der Aufklärung?

Vieles deutet auf ein neues Zeitalter des Irrationalismus hin

Die Ratschläge von Mainstream-Medien zum Umgang ihrer „Gläubigen“ mit „Verschwörungstheoretikern“ bei weihnachtlichen Familientreffen haben in Alternativmedien ein vielfaches, meistens amüsiertes Echo gefunden. Dahinter verbirgt sich jedoch ein äußerst ernstes Problem, das ich im Folgenden näher beleuchten möchte: Nämlich der zunehmende Verlust einer allseits akzeptierten Vorstellung von der Beschaffenheit der uns umgebenden Realität.
Es hat wohl fast jeder von uns in den letzten Jahren Situationen erlebt, in denen sich Diskussionen als unmöglich erwiesen, weil beide Seiten von völlig unvereinbaren Voraussetzungen ausgingen. Die unvermeidlichen Folgen davon sind gegenseitige Vorwürfe von „Wahn“, Beschimpfungen und im Internet Blockierungen, die das missliebige Gegenüber einfach aus der eigenen digitalen Welt entfernen.

Die Frage, wer dabei Recht oder Unrecht hat, lässt sich meistens allein schon deshalb nicht beantworten, weil sie sich unter den genannten Umständen gar nicht mehr sinnvoll stellen lässt. Bei der Aufklärung eines Kriminalfalles, einer naturwissenschaftlichen Fragestellung oder auch bei der Bewertung historischer Ereignisse gehen wir Menschen der westlichen Moderne zumeist immer noch davon aus, dass es zumindest prinzipiell möglich ist, objektive Aussagen darüber zu machen, was war bzw. was ist. Wenn diese Möglichkeit aber selbst infrage steht, dann geht es nicht mehr um die Klärung von Sachverhalten, sondern um einen Gegensatz von „Weltbildern“, die nicht miteinander kompatibel sind. Dies führt mich zu dem Schluss, dass in unserer Gegenwart etwas stattfindet, was sich mit jenem Epochenbruch zwischen christlichem Mittelalter und früher Neuzeit vergleichen lässt, den wir im allgemeinen mit dem Begriff „Aufklärung“ bezeichnen. Meine These ist, dass der epochale Wandel unserer Zeit die Gegenrichtung einschlägt und somit das Ende der Aufklärung markieren könnte.

Kulturgeschichtlich später rationaler Durchbruch

Man verfällt leicht in den Fehler, für uns als selbstverständlich erscheinende Einstellungen auf längst vergangene Zeiten zu projizieren. Aufgrund einer solchen Fehleinschätzung wird häufig übersehen, dass die Dominanz einer vernunftbasierten Weltsicht erst relativ spät in der menschlichen Kulturgeschichte aufgetreten ist. Es gab zwar im Klassischen Altertum bereits ein rationales Nachdenken über die Welt und den Menschen (Philosophie) und auch daraus folgende Einsichten über Politik und Gesellschaft. Die alten Griechen und Römer entwickelten aber trotz einiger vielversprechender Ansätze keine objektive Naturwissenschaft und verharrten deshalb auch auf einem relativ niedrigen technischen Niveau. Die Rationalität ging dann in der Spätantike und im Früh- und Hochmittelalter praktisch völlig zugunsten des religiösen Weltverständnisses der katholischen Kirche wieder verloren.
Der erste Schritt auf dem langen Weg zur Aufklärung war im Spätmittelalter (ab etwa 1200 n. Chr.) die Wiederentdeckung der antiken Philosophie durch die Scholastiker und in der Folge die Entstehung einer christlichen Theologie, die zwar immer noch dogmatisch war, sich aber rationaler Argumentationen bediente.

In der italienischen Renaissance entstand dann zum ersten Male innerhalb der westlichen Kultur ein vernunftbasiertes und interessengeleitetes Verständnis von Politik. Eine herausragende Figur war hierbei der Philosoph Niccolò Macchiavelli (1469-1527) aus Florenz. Als allgemein akzeptiertes Leitbild hat sich dieses rationale Politikverständnis aber erst mit dem Wirken des französischen Regenten Kardinal Richelieu (1585-1642) durchgesetzt. Wichtiger als die genannten Schritte zur Aufklärung war aber etwas anderes: Ab dem 16. Jahrhundert begann sich die Einsicht durchzusetzen, dass man durch Beobachtung der Natur (und später dann durch zielgerichtetes Experimentieren) objektiv erkennen kann, wie sich die Dinge wirklich verhalten, und dass diese Erkenntnisse höherwertiger sind als Aussagen philosophischer und theologischer Autoritäten. Dass sich etwa Himmelskörper frei im Raum bewegen (und nicht an „Sphären“ angeheftet sind), dabei Ellipsenbahnen (und keine idealen Kreise) beschreiben und sich insbesondere die Erde um die Sonne bewegt, sind Einsichten, die sich in langen Kämpfen durchsetzen mussten, genauso wie die Erkenntnis, dass die Einwirkung einer äußeren Kraft nicht zur Aufrechterhaltung einer Bewegung notwendig ist, sondern nur zu ihrer Veränderung.

Moderne Form der Scholastik

In allen diesen Fällen hatten von der katholischen Kirche zu unfehlbaren Autoritäten erhobene altgriechische Philosophen Dinge gelehrt, die im Widerspruch zu einer objektiv erfassbaren Wirklichkeit stehen. Dieser Sieg des rationalen Weltverständnisses über das alte religiös-dogmatische Weltbild war mit Sicherheit die größte Leistung des westlichen Kulturkreises und vielleicht sogar das größte Ereignis der Menschheitsgeschichte, denn mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften wurde auch eine ungeahnte Beherrschung der Natur durch technische Prozesse möglich, die bis zur heutigen Digitaltechnik und Bio-Informatik geführt hat. Es war seit der frühen Neuzeit weitgehend unbestritten, dass Religion, Weltanschauung und Ideologie die Naturwissenschaften niemals auf deren eigenem Feld besiegen können. Gleichzeitig wurde mit René Descartes‘ (1596-1650) Ausspruch “cogito ergo sum” – „Ich denke, also bin ich“ – der rational denkende Mensch auch zum Ausgangspunkt der modernen Geisteswissenschaften.

Aus Descartes‘ Erkenntnis entsprang dann allerdings sehr viel später eine verhängnisvolle Gegenbewegung, deren anti-aufklärerische Stoßrichtung allerdings zunächst nicht ohne weiteres zu erkennen war. Französische Philosophen wie Michel Foucault (1926-1984) und Gilles Deleuze (1925-1995) erklärten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert praktisch das gesamte menschliche Denken zu einem „gesellschaftlichen Konstrukt“. Vielleicht war diesen Protagonisten der sogenannten „Postmoderne“ selbst gar nicht bewusst, dass diese Vorstellung die oben beschriebene Autonomie der Naturwissenschaften fundamental infrage stellte und damit ein weltanschaulicher Rückfall in eine moderne Form der Scholastik unvermeidlich wurde. Emblematisch hierfür steht die US-amerikanische Philosophin Judith Butler (geb. 1956), die „Erfinderin“ der Gender-Theorie, welche das biologische Faktum der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen durch ein fließendes, „non-binäres“ Verständnis der Geschlechtlichkeit ersetzen will.

Postmoderner Konstruktivismus hielt Einzug ins Alltagsleben

All dies bewegte sich sehr lange in einer akademischen Blase und wurde von der Mehrzahl der Menschen entweder überhaupt nicht wahrgenommen oder als unwichtige Spinnerei angesehen. Die Philosophie ist aber auch heute noch eine Leitwissenschaft, und so kam der postmoderne „Konstruktivismus“ in den letzten Jahren zwar mit Verspätung, aber dann mit großer Macht, in unserem Alltagsleben an. Das postfaktische Zeitalter begann nicht erst mit Wladimir Putins Krim-Annexion im Frühjahr 2014, aber von diesem Zeitpunkt an wurden unversöhnliche Auseinandersetzungen über das Wesen einer Realität, die sich zunehmend objektiven Kriterien zu entziehen schien, zu einer alles beherrschenden Erscheinung in Politik und Gesellschaft.
Es sei hier betont, dass sich die Problematik – zumindest aus meiner Sicht – nicht darauf reduzieren lässt, dass man die Begriffe „Lüge“ und „Wahrheit“ einfach auf „Mainstream“ und „Opposition“ abbildet.

Wer Recht hat, kann in vielen Fällen allein schon deshalb nicht festgestellt werden, weil im postfaktischen Zeitalter die Grundlagen für solche Urteile weitgehend verloren gegangen sind. In den Bewertungen der Personen Donald Trump und Wladimir Putin stoßen ebenso Weltbilder zusammen wie bei der Betrachtung der US-Präsidentschaftswahlen von 2020, dem Ukraine-Konflikt oder auch beim gegenwärtigen Nahostkrieg. In anderen Fällen sind irrationale Denkmuster leichter als solche zu erkennen: Die Gender-Ideologie wurde schon als Beispiel genannt. Auf oppositioneller Seite entsprechen ihr etwa Versuche, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges umzuschreiben, die Leugnung der Existenz von Viren und Atombomben, aber auch der Glaube an technisch Unmögliches wie die künstliche Erzeugung von Erdbeben oder die lokale Ausschaltung der Schwerkraft.

Schadhafter politischer Dogmatismus

Manch ein Leser mag sich an dieser Stelle fragen, warum die Begriffe „Klima“ und „Corona“ in diesem Beitrag bis jetzt noch nicht aufgetaucht sind. Sie stehen in der Tat mehr als alle anderen für ein neues anti-aufklärerisches Weltbild inmitten der westlichen Moderne, markieren jedoch ein anderes Phänomen als die bisher beschriebenen: Bei diesen beiden Themen maßte es sich nämlich die Politik an, einen naturwissenschaftlichen Konsens autoritär festzulegen, den es in Wirklichkeit nie gab und auch heute nicht gibt. An dieser Stelle zeigt das Gift der konstruktivistischen Philosophie seine wohl stärksten Wirkungen, und diese Wirkungen sind verhängnisvoll. Zunächst einmal ist ein gewisses Grundvertrauen in die Objektivität der Naturwissenschaften existentiell wichtig für das Funktionieren unserer Gesellschaft. Dieses Grundvertrauen muss vor allem innerhalb des Wissenschaftsbetriebes selbst vorhanden sein, weil sonst der gesamte Erkenntnisprozess sein Fundament verliert.

Hinzu kommen unabsehbare, reale Schäden, deren Ursache der genannte politische Dogmatismus ist: Massenhafte Gesundheitsschäden und Todesfälle durch „Corona-Impfungen“ hätten genauso vermieden werden können wie sinnlose wirtschaftliche Existenzverluste durch verfehlte „Klimaschutzmaßnahmen“, wenn die Politik einfach die Tatsache eines beschränkten Erkenntnisstandes der Naturwissenschaften auf diesen Gebieten zur Kenntnis genommen und aufgrund dieser Tatsache auf allzu weitreichende Handlungen verzichtet hätte. Hier ist noch einmal auf die eingangs genannten Mainstream-Warnungen vor dem bösen, verschwörungsgläubigen Onkel beim weihnachtlichen Familientreffen zurückzukommen: In Wirklichkeit haben sich „Klimajünger“ und „Zeugen Coronas“ selbst längst in dogmatische, irrationale und hermetisch abgeschlossene Weltbilder eingesponnen und verkünden darüber hinaus die Verschwörungstheorie, dass Oppositionelle ausschließlich aufgrund ihrer rechtsextremen Einstellung planmäßig Lügen verbreiten würden, die in letzter Konsequenz zum Aussterben der Menschheit durch fehlenden Schutz vor Killerviren und die Klimakatastrophe führen müssten. Dies ist geradezu grotesk falsch!

Multikrise der westlichen Gesellschaften

Richtig ist aber, dass es anti-aufklärerische Impulse auch innerhalb der politischen Opposition gibt. Ich nehme mich selbst gar nicht davon aus, denn als erklärtem Konservativen und Traditionalisten ist mir der Gedanke keineswegs fremd, dass mit der Aufklärung und insbesondere mit der französischen Revolution von 1789 die Zerstörung einer organisch gewachsenen Gesellschaftsordnung begann, ohne die Menschen vielleicht nicht existieren können. Lange Zeit bildeten fortbestehende Traditionen und konservative Grundeinstellungen noch ein Gegengewicht zum Fortschreiten von Liberalismus, Individualisierung und Kapitalismus. Heute haben diese drei Entwicklungen die konservativen Restbestände praktisch vollständig aufgefressen und fallen mangels dieses Gegengewichtes ins schiere Nichts. Darin liegt aus meiner Sicht eine Hauptursache der gegenwärtigen Multikrise der westlichen Staaten und ihrer Gesellschaften. Wenn man dies bedenkt, ist es gar nicht überraschend, dass sich die voraufklärerische Irrationalität anscheinend auf einem unaufhaltsamen Siegeszug befindet. Weil die reine Vernunft den Menschen offenbar in den Abgrund stürzt, verlangt er nach ihrem Gegenteil.

Die islamische Welt ist dem Westen in diesem destruktiven Prozess vielleicht nur etwa ein halbes Jahrhundert voraus. Sie befand sich in den 1970er Jahren in einer schweren Sinnkrise, weil ihre Versuche einer Adaption von zentralen Elementen der westlichen Zivilisation an unüberbrückbaren Kulturunterschieden gescheitert war. Als praktisch niemand mehr noch irgendeine Zukunft für den Islam und seine Zivilisation sah, schwebte im Februar 1979 der Ayatollah Chomeini als irdischer Stellvertreter des zwölften schiitischen Imams Mehdi aus seinem französischen Exil in Teheran ein. Die Folgen waren eine weltweite spirituelle Wiedergeburt des Islams, eine regelrechte islamische Weltrevolution, aber auch ein bis dahin unvorstellbarer Irrationalismus inmitten der Moderne des 20. und 21. Jahrhunderts. Vielleicht endet die gegenwärtige Sinnkrise des Westens ja auch damit, dass in einigen Jahren Björn Höcke aus seinem Moskauer Exil in Berlin landet und dort von mehreren Millionen Menschen ekstatisch als im Kyffhäuser auferstandener Kaiser Barbarossa gefeiert wird.

Oppositioneller Hang zu Spinnereien

Die islamische Revolution Chomeinis und das zum Glück noch fiktive Barbarossa-Szenario stehen für eine ungeheure Gefahr, der man sich bewusst sein muss, um ihr entgegen zu wirken: In einem Zustand allgemeiner Irrationalität erscheint plötzlich alles als möglich. Genauso wie die konstruktivistischen Philosoph(inn)en könnte auch der heutige polit-mediale Mainstream mit seiner Abschaffung eines allgemein akzeptierten Begriffes von Realität Geister herbeirufen, die seinen ursprünglichen Absichten völlig entgegenstehen, die er aber wie in Goethes Gedicht vom Zauberlehrling nicht mehr los wird. Insbesondere wird eine von Unvernunft und Aberglaube bestimmte Gesellschaft extrem anfällig für charismatische Verführer. Diese können einen pseudoreligiösen Charakter besitzen, müssen es aber nicht. Denkbar sind auch Formen jenes „Cäsarismus“, den der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler (1880-1936) sicherlich nicht ohne Grund als bestimmende Herrschaftsform des 21. Jahrhunderts vorhersagte.

Angesichts solche dystopischer Zukunftsaussichten wäre aber eine Rückkehr zur Vernunft und zum Vertrauen in die Naturwissenschaften dringend geboten – und sollte deshalb auch von der politischen Opposition befürwortet werden, anstatt die vom Mainstream ausgehende Irrationalität noch zu verstärken. Es gibt leider tatsächlich einen oppositionellen Hang zu „Spinnereien“, die allzu leicht als solche erkennbar sind und damit zu einem großen Hindernis für ernsthafte politische Ansätze werden. Das Bekenntnis zur Rationalität steht einer Stärkung von Traditionen und organisch gewachsenen Gemeinschaften wie Ehe, Familie, Nation und Kirchen keineswegs entgegen. Ohne solche Gegengewichte wird die Aufklärung offenbar zum Fluch. Man darf aber nicht vergessen, dass sie über Jahrhunderte hinweg sehr viele segensreiche Wirkungen hatte. Ihr Ende könnte bevorstehen, aber sie könnte genauso gut in der gegenwärtigen Krise eine ungeahnte Vitalität offenbaren und noch lange weiterbestehen. Tragen wir als Oppositionelle lieber dazu bei, als unsere Gegner in ihrer Irrationalität noch übertrumpfen zu wollen.