Das israelische Trauma

„Es gibt hier kein Haus, in dem nicht getrauert wird“

(Von Mareike Enghusen)

Drei Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas sind immer noch nicht alle Leichen identifiziert, das Vertrauen in die Regierung ist tief erschüttert. Doch Kritik an Netanjahus Kriegsplänen gibt es kaum.

Nur ein paar Hundert Meter liegen zwischen dem Kibbuz Nirim und dem mit Stacheldraht bestückten Sperrzaun, der die östliche Flanke des Gazastreifens umschließt. Und doch schien die Welt auf der anderen Seite der Grenze unendlich weit entfernt von dem Kibbuz, einem 400-Seelen-Ort mit bunten Blumenbeeten und einstöckigen Häuschen unter Palmen. „Ich habe mich so sicher gefühlt“, sagt Adele Raemer, die dort seit 48 Jahren lebt. „Ich habe der Armee bedingungslos vertraut. Ich habe mich geirrt.“Die Tagesspiegel-App Aktuelle Nachrichten, Hintergründe und Analysen direkt auf Ihr Smartphone. Dazu die digitale Zeitung. Hier gratis herunterladen.

An einem sonnigen Samstagmorgen sitzt Raemer, 69 Jahre alt, auf der sonnenbeschienenen Veranda eines Hotels in Tel Aviv. Der beispiellose Angriff der Hamas im Süden Israels ist zu diesem Zeitpunkt genau zwei Wochen her. In Nirim brachten die Terroristen fünf Menschen um, weitere entführten sie nach Gaza.

Die genauen Zahlen stehen noch immer nicht fest, zu lang sind die Listen der Vermissten. Klar ist zumindest, dass die Menschen in Nirim noch vergleichsweise Glück hatten: Das Verteidigungskommando des Kibbuz, mehrere Männer mit Waffenschein, konnte ein schlimmeres Massaker verhindern.

Im Kibbuz Nir Oz dagegen, drei Kilometer südlich von Nirim, ermordeten die Terroristen mindestens hundert Menschen und verschleppten rund 80 weitere nach Gaza. Auf einen Schlag verlor Nir Oz fast die Hälfte seiner Einwohner.

Adele Raemer, die als junges Mädchen von New York nach Israel einwanderte, wohnt derzeit eigentlich in einem Hotel in Eilat, in der südlichsten Spitze des Landes. Die Regierung hat sie und die anderen Bewohner Nirims auf unbestimmte Zeit dort einquartiert. Doch für Interviews ist Raemer an diesem Tag nach Tel Aviv gekommen. Sie hat es zu ihrer Mission gemacht, die Geschichten der Überlebenden zu erzählen. Die Welt, sagt sie, müsse begreifen, was hier geschehen sei.  

Ich war sicher, ich würde die Sonne nicht mehr aufgehen sehen.
Adele Raemer

Am frühen Morgen des 7. Oktobers wurde Raemer von Sirenen aus dem Schlaf gerissen. Wie immer bei drohenden Raketenangriffen aus Gaza zog sie sich in den speziell verstärkten Schutzraum zurück, zusammen mit ihrem Sohn, der gerade zu Besuch war. Alle Häuser in den Grenzorten haben solche Räume, die dem Einschlag einer Rakete standhalten sollen. Gegen das, was an jenem Tag über Nirim hereinbrach, bieten sie jedoch keinen Schutz: Sie lassen sich nicht abschließen.

Nach etwa einer halben Stunde im Schutzraum, erzählt Raemer, habe sie draußen plötzlich Explosionen und Schüsse gehört. Und dann rief ganz nah an ihrem Fenster eine Männerstimme etwas auf Arabisch. „Noch nie hatte ich solche Angst.“ Für einen Moment hebt sie den Blick und schaut in den wolkenlosen Himmel. „Ich war sicher“, sagt sie, „ich würde die Sonne nicht mehr aufgehen sehen.“

Der Schwiegersohn erschoss einen Eindringling

Dass die Terroristen ihr Haus am Ende verschonten, hat ihr das Leben gerettet. Auch ihre Tochter, die als einziges ihrer vier Kinder noch in Nirim wohnt, hat überlebt, ebenso wie die drei Enkelkinder: Raemers Schwiegersohn vertrieb mehrere Terroristen aus seinem Haus, indem er einen von ihnen erschoss.

Etwa 1400 Israelis hat die Hamas bei ihrem Überfall ermordet, hier das Begräbnis eines Opfers am 27. Oktober.
Etwa 1400 Israelis hat die Hamas bei ihrem Überfall ermordet, hier das Begräbnis eines Opfers am 27. Oktober.

Es ist eine von Tausenden Geschichten dieses 7. Oktobers, und sie ist trotz allem Grauen eine der glimpflichen. Andere handeln von Folter und Enthauptungen, von Vergewaltigung und Verbrennungen bei lebendigem Leib. Die Opfer können diese Geschichten nicht mehr erzählen. „Aber ihre Körper sprechen“, sagte einer der Freiwilligen des Zaka-Rettungsdienstes, der viele der Leichen gesehen hatte, später in einem Fernsehinterview.

Mindestens 1400 Menschen ermordeten die Männer der Hamas an jenem Tag, Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder und Babys. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ist das, als hätten Terroristen in Deutschland an einem einzigen Tag 12.000 Menschen getötet. Mehr als 200 Menschen hat die Hamas in den Gazastreifen entführt, darunter über Achtzigjährige und Babys. Dutzende Menschen gelten außerdem als vermisst.

Tage und Nächte in quälender Ungewissheit

Rund drei Wochen nach dem Angriff sind noch immer nicht alle Leichen identifiziert, noch immer nicht alle Schicksale geklärt. Dass es so lange dauert, liegt sowohl an der hohen Todeszahl als auch an der Grausamkeit der Täter, die manche ihrer Opfer verbrannten und andere bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten. Die Angehörigen der Vermissten verbringen ihre Tage und Nächte in quälender Ungewissheit.

Eine von ihnen ist Tair Kowalski, 37 Jahre alt. An einem Nachmittag unter der Woche sitzt sie in der offenen Küche ihrer Wohnung in der Küstenstadt Herzliya nördlich von Tel Aviv. Ihre zwei Söhne, sechs und drei Jahre alt, toben fröhlich lärmend durch die Wohnung, als spürten sie nichts von der Schwere, die sich über das Land gelegt hat.

„Die Listen der betroffenen Familien sind wahnsinnig lang“, sagt Tair Kowalski, deren Verwandte seit dem Überfall am 7. Oktober vermisst wird.
„Die Listen der betroffenen Familien sind wahnsinnig lang“, sagt Tair Kowalski, deren Verwandte seit dem Überfall am 7. Oktober vermisst wird.

Doch der Eindruck täuscht. Der Große erschrecke jedes Mal, wenn irgendwo ein Motorrad aufheule, weil er es für Raketenalarm halte, erzählt Kowalski. Der Kleine habe mehrere Nächte nicht geschlafen.

Und sie selbst? 

Tair Kowalski wirkt gefasst und kühl, doch in ihrem Inneren brennt es. „Ich arbeite in einem Start-up“, sagt sie. „Das war jedenfalls mein Job, bis hier in Israel ein Genozid geschah.“ Eine ihrer Verwandten, die 19-jährige Roni Eshel, gilt seither als vermisst. Roni ist die Tochter ihrer Cousine, aber Kowalski nennt sie „meine Nichte“, so nah stünden sie sich.

Wir haben die ganze Familie mobilisiert und die Welt auf den Kopf gestellt, um irgendwelche Informationen zu bekommen.Tair Kowalski

Die junge Frau hatte bis zum 7. Oktober ihren Wehrdienst in einer Basis nahe dem Gazastreifen absolviert. An jenem Morgen schickte sie eine Textnachricht an ihre Mutter: „Mama, ich liebe dich, mach dir keine Sorgen, ich bin in Ordnung“, dazu drei Herzen. Danach brach die Kommunikation ab. Roni Eshel und fünf ihrer Kameradinnen gelten seitdem als vermisst.

„In den ersten 72 Stunden haben wir die ganze Familie mobilisiert und die Welt auf den Kopf gestellt, um irgendwelche Informationen zu bekommen“, erzählt Tair Kowalski. Inzwischen wissen sie, dass Hamas-Terroristen die Basis überrannten und viele Soldaten und Soldatinnen erschossen.

Auf der Suche nach Hinweisen auf Roni hat Kowalski sich etliche Videos von den Massakern angesehen, die seitdem in den sozialen Medien kursieren. Auf einem davon musste sie die Ermordung einer guten Freundin von Roni mitansehen. Von der Gesuchten selbst jedoch fand sie keine Spur.

In den ersten Tagen konnten staatliche Stellen ihnen noch nicht einmal betätigen, dass Roni offiziell vermisst sei. „Die Listen der betroffenen Familien sind einfach wahnsinnig lang“, sagt Kowalski. „Es gibt hier kein Haus, in dem nicht getrauert wird.“

Das ist das Schlimmste, was dem jüdischen Volk seit der Shoah passiert ist.Tair Kowalski

Der 7. Oktober 2023 sei der 11. September Israels, heißt es nun manchmal. Aber der Vergleich greift zu kurz. Die Bestialität, mit der die Terroristen vorgingen und sich dabei auch noch filmten, rühren an das tiefste und dunkelste Trauma in der kollektiven Psyche des Landes: die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Nazis.

„Kinder, Babys, Erwachsene, Alte, Frauen, Feiernde – Zivilisten, die nichts getan haben, wurden abgeschlachtet“, sagt Tair Kowalski. „Das ist das Schlimmste, was dem jüdischen Volk seit der Shoah passiert ist.“ Es gibt viele Menschen in Israel, die in diesen Tagen so sprechen.

Während Tausende Familien im ganzen Land um ermordete Verwandte trauern, bangen andere um das Leben der Geiseln. Die Gesichter der Entführten schauen in Tel Aviv und anderen Orten von Hauswänden, Schaufenstern und Bushaltestellen: Überall kleben ihre Fotos, überschrieben mit dem Wort „Kidnapped“.

Die Familien der Geiseln haben sich in ihrer geteilten Verzweiflung organisiert: Sie geben Interviews und Pressekonferenzen, treffen ausländische Staatschefs, organisieren medienfreundliche Aktionen. Am Freitagnachmittag vergangener Woche etwa laden sie Reporter zu einem symbolischen Schabbatessen auf dem Platz vor dem Tel Aviver Museum der Künste ein. Dort haben sie Tische zu einer langen Tafel zusammengeschoben und eingedeckt wie für das traditionelle Dinner am Freitagabend. Doch die gut zweihundert Stühle, einen für jede Geisel, bleiben leer.

Ich habe keine Worte für diese Katastrophe. Saki Levy

Rund um die Tafel drängen sich Fotografen, Reporter, Aktivisten und Angehörige der Geiseln. Etwas abseits der Menschentraube steht Saki Levy, 70 Jahre alt, in einem luftigen Sommerkleid. In den Händen hält sie das Foto ihres Neffen: Or Levy, 33 Jahre alt, Vater eines zweijährigen Sohnes.

Levy war mit seiner Frau Einav am frühen Morgen des 7. Oktobers auf das Nova-Festival gefahren, auf dem die Hamas anschließend ein Massaker anrichtete. Die Terroristen töteten dort mindestens 250 Männer und Frauen. Manche erschossen sie, andere brachten sie um, indem sie Granaten in die Bunker warfen, in denen sich Schutzsuchende drängten.

Auch Or Levys Frau Einav, erzählt Levi, kam dabei ums Leben. Er selbst befindet sich in den Händen der Hamas im Gazastreifen, das vermutet die Familie zumindest. Um seinen kleinen Sohn kümmern sich nun die Großeltern.

Der Neffe der 70-jährigen Saki Levy wurde am 7. Oktober vermutlich von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt, seine Frau wurde getötet. Um den kleinen Sohn der beiden kümmern sich nun die Großeltern. 
Der Neffe der 70-jährigen Saki Levy wurde am 7. Oktober vermutlich von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt, seine Frau wurde getötet. Um den kleinen Sohn der beiden kümmern sich nun die Großeltern. 

Saki Levy hat nicht viel Zeit zu sprechen, schon treiben Ordner die Menge laut rufend auseinander. Menschenansammlungen sollen vermieden werden in diesen Tagen, weil es jederzeit Raketenalarm geben kann. Doch ohnehin wirkt sie erschöpft. „Ich habe keine Worte für diese Katastrophe“, sagt sie.

Was macht ein solcher Schock mit einer Gesellschaft, die ohnehin von Traumata gebrannt ist? Erforschen lassen wird sich das erst im Rückblick. Doch aus der Vergangenheit lassen sich zumindest Hinweise ableiten, meint der Historiker Danny Orbach von der Hebräischen Universität in Jerusalem.

Die israelische Gesellschaft hat wiederholt bewiesen, dass sie bereit ist, einen enormen Preis zu bezahlen, wenn sie sich existenziell bedroht fühlt.Danny Orbach, Historiker

„Ein dominantes Gefühl in der Öffentlichkeit ist gerade die Angst vor existenzieller Gefahr“, sagt Orbach, der sich auf Kriegsverbrechen und Gräueltaten spezialisiert hat. Eine solche Angst habe Israel schon mehrfach ausstehen müssen: bei der Staatsgründung 1948 etwa, als mehrere arabische Armeen das junge Land überfielen, und in den Sechzigern, als Gerüchte umgingen, deutsche Ingenieure hälfen Ägyptern bei der Entwicklung moderner Raketen. „Die Israelis dachten, es drohe ein zweiter Holocaust.“

Unter dem öffentlichen Druck habe der Mossad, Israels Auslandsgeheimdienst, sich anschließend zu hochgefährlichen Operationen verleiten lassen. „Mein Punkt ist: Die israelische Gesellschaft hat wiederholt bewiesen, dass sie bereit ist, einen enormen Preis zu bezahlen, wenn sie sich existenziell bedroht fühlt“, sagt Orbach. „Und das ist gerade der Fall.“

Tatsächlich steht die jüdische Bevölkerungsmehrheit, die noch vor wenigen Wochen als unheilbar zerstritten galt, geeint hinter dem Krieg, den die Regierung der Hamas erklärt hat. Israels Armee, die IDF, soll die militärischen Kapazitäten ebenso wie die politischen Strukturen der Terroristen in Gaza zerstören.

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Sicherheitsexperten sind sich einig, dass sich diese Ziele nur mit einer Bodenoffensive erreichen lassen, die Monate dauern und zahlreiche Opfer fordern dürfte, auch unter Israels Soldaten. Dennoch kommen Stimmen, die diese Ziele in Zweifel ziehen, in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht vor.

Das heißt indes nicht, dass die die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu von der kriegerischen Stimmung profitiert. Im Gegenteil: In Umfragen ist die Unterstützung für seine Koalition seit dem Anschlag massiv eingebrochen. „Ich glaube nicht, dass die Regierung das überlebt“, sagt Orbach. „Die Netanjahu-Ära ist an ihr Ende gelangt.“ 

Und auch die israelische Außenpolitik dürfte das Trauma auf Jahre hinweg prägen, insbesondere gegenüber den Palästinensern. „Es wird von nun an sehr schwer sein, die Menschen in Israel zu überzeugen, dass ein palästinensischer Staat gegründet werden soll“, meint der Historiker. „Die verbreitete Haltung derzeit lautet: Die andere Seite ist wie die Nazis, wir können ihnen keinerlei Form von Souveränität gewähren.“

Selbst eingefleischte Linke hat die Grausamkeit der Hamas in ihren Grundüberzeugungen erschüttert. Zu ihnen gehört Adele Raemer aus Nirim. Viele Jahre lang, erzählt sie, habe sich in Friedensinitiativen engagiert, an Dialogprojekten mit Palästinensern teilgenommen, über soziale Medien Freundschaften zu Menschen in Gaza geknüpft. Damit ist es jetzt vorbei. „Ich war eine Friedensaktivistin“, sagt sie. „Aber am 7. Oktober hat sich meine DNA verändert. Jetzt bin ich eine Überlebensaktivistin.”

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