Vor der ukrainischen Generaloffensive

Die Ukraine steht wenige Wochen vor einer Generaloffensive im Krieg. Für einige wird diese Russland schwer unter Druck setzen, andere sehen es als letzten Zug der Ukraine. Es dürfte aber tatsächlich  entscheidende Schlacht kommen.

Der blutige Winter des Krieges ist vorbei, Russland war während des Winters in der Offensive. Doch ein größerer militärischer Erfolg blieb es. Jetzt steht die Ukraine vor einem neuen Manöver – für viele Beobachter steht der Konflikt vor entscheidenden Monaten.

Enscheidungs-Schlacht?

Mit angekündigten Offensiven ist es oft eine zweifelhafte Sache. Aktuell sind sich aber sowohl pro-russische als auch pro-westliche Beobachter gänzlich einig. In den nächsten Wochen startet das Selenski-Regime einen großangelegten Versuch, die russische Linie zu durchbrechen. Fraglich ist noch, in welche Richtung man vorstoßen will. Hinein in den Kessel von Bakhmut/Artyomovsk, Richtung Süden nach Melitopol, oder an anderen Frontabschnitten im Donbass?

Der US-amerikanische Kommunist Russell Bentley, der seit vielen Jahren im Donbass lebt und auch für die Donezker Volksmiliz gekämpft hat, spricht dramatische Worte: „Die bevorstehende AFU (Ukrainische Streitkräfte)/NATO-Offensive wird eine entscheidende Schlacht in dem neunjährigen Krieg im Donbass sein. Der April 2023 wird in die russische und die Weltgeschichte eingehen, entweder als Juni 1941 oder als Mai 1945.“

Er glaubt nicht, dass Bakhmut oder Saporischschja, um Richtung Krim vorzustoßen, anvisiert sind. Stattdessen werde die Offensive nach Donezk und Gorlovka, die Stadt zwschen Donezk und Bakhmut ansteuern. „Wie ursprünglich von der NATO geplant“, schreibt Bentley, und verweist dabei auf die Pläne einer ukrainischen Donbass-Offensive im März 2022. Diese Offensive wird von Russland auch häufig als Grund für den Einmarsch angegeben.

Bentley schreibt weiter: „Wenn es den AFU/NATO-Kräften gelingt, 15 km von ihren derzeitigen Stellungen in diese Städte vorzustoßen, wird Russland den Donbass, die Krim und den Krieg verlieren. Gelingt es Russland jedoch, diese Angriffe abzuwehren und die Nazis daran zu hindern, in die Städte vorzudringen, werden die Nazis besiegt, die AFU zerschlagen und die NATO wird sich besiegt aus der Ukraine zurückziehen, so dass die russischen Streitkräfte so weit vorrücken können, wie es zur Verwirklichung aller Ziele der SMO erforderlich ist. Der Einsatz könnte nicht höher sein – Sieg oder Tod.“

Die Offensive kommt

Am Freitag veröffentlicht der Texaner eine ausführliche und lesenswerte militärische Analyse aus Donezk, in der er seine Schlüsse argumentiert.

Doch die Meinungen, wie sich die Offensive entwickeln wird, gehen – wie im Krieg üblich – weit auseinander. Seymour Hersh – bekanntlich enorm gut informiert – kündigte für Sommer und Herbst ein „Desaster für Europa“ an. Dagegen hält Militärökonom Marcus Keupp von der ETH Zürich. In einem „NZZ“-Interview meint er ganz genau zu wissen, was die nächsten Monate bringen würden: Mitte April würde die Offensive beginnen, und Richtung Melitopol vorstoßen. „Deswegen habe ich auch gesagt: Russland wird den Krieg im Oktober militärisch verloren haben. Die militärische Lage wird vergleichbar sein mit 1944, als der europäische Krieg für die Achsenmächte verloren war.“ Keupp dürfte einer jener Experte sein, der äußerst überzeugt von sich selbst ist. Der Journalist Eric Bonse kommentiert die Prognose von Keupp so: “Dieser Mann wagt exakte militärische Prognosen zum Ukraine-Krieg – ohne ein Wort zu Strategie und Politik zu verlieren. Das ist die Crux bei den meisten Militärexperten.”

Es gibt aber nicht nur Experten aus dem Westen, die eine kritische Situation auf Russland zukommen sehen. Wer die verlinkte Analyse von Bentley liest, wird sehen, dass auch er glaubt, dass der russische Generalstab die Dramatik der Situation unterschätzt. Es gibt aber noch weit pessimistischere pro-russische Stimmen – auch aus Russland selbst.

Selbst Douglas MacGregor, pensionierter Colonel der US-Army und weitreichenstarker NATO-kritischer Kriegsanalyst, zweifelt nicht an der kommenden Offensive. Und dass, obwohl er den Kollaps der ukrainischen Armee bereits monatelang vorhersagen will. Doch laut ihm werde die Offensive bespiellos scheitern. Gonzalo Lira stimmt ihm zu: „Die bevorstehende Offensive des Kiewer Regimes ist die letzte Möglichkeit, die Würfel fallen zu lassen. Aber die Russen sind stark befestigt, warten und bereiten sich auf genau diese Offensive vor. Dies ist das Ende.“

Aus dieser Perspektive würde Selenski nun genau das machen, was die USA von ihm erwarten: Krieg bis zum letzten Ukrainer – ohne Aussicht auf Erfolg. Dazu passt die Behauptung Victor Orbans, wonach die EU aktuell über die Entsendung von „Friedenstruppen“ in die Ukraine beraten würde.

Eines ist klar: Die Offensive wird in den nächsten Wochen kommen. Ihr Ausgang ist aber ungewissen. Gewiss ist aber, dass er für Tausende Männer den Tod bedeuten wird.