Spionageaffäre erschüttert die russische Rüstungsforschung

Details zu Putins Wunderwaffe verraten ?

Mit einer neuen Wunderwaffe will Russland das „Gleichgewicht des Schreckens“ wieder herstellen. Doch nun sollen Details verraten worden sein – und der Kreml hat seine eigene Spionageaffäre.

Moskau Diese wahre Geschichte hat alle Zutaten für ein gutes Drehbuch: Eine vermeintliche militärische Wunderwaffe, um das „Gleichgewicht des Schreckens“ wieder herzustellen; einen Insider, der angeblich Details dazu weitergegeben hat und der gefasst wird. Und keinen geringeren Vorwurf als diesen: Hochverrat. So hat Russland nun seine eigene Spionageaffäre – während in den USA über den Einfluss russischer Agenten im Wahlkampf diskutiert wird.

Ein Wissenschaftler des wichtigsten Forschungsinstituts der staatlichen Weltraumagentur Roskosmos sitzt seit Tagen wegen des Verdachts auf Hochverrat in Untersuchungshaft. Dem 74-jährigen Physiker Viktor Kudrjawzew wird die Übergabe von Technologien vorgeworfen, die Russland zur Herstellung seiner Hyperschallraketen verwendet hat.

Die Raketen hatte Russlands Präsident Wladimir Putin wenige Tage vor der Wahl Anfang März in seiner Rede zur Lage der Nation präsentiert. Unterstützt von animierten Trickfilmchen, auf denen Beobachter unter anderem die Küste Floridas erkannten, demonstrierte Putin die neuen Waffen: „Avantgarde“ (Marschflugkörper), „Kinschal“ (luftgestützter Raketenkomplex) und „Sarmat“ (bodengestützter Raketenkomplex) sollen in Hyperschallgeschwindigkeit und im Zick-Zack fliegend sämtliche Raketenabwehrsysteme überwinden können.

Der noch im Aufbau befindliche US-Raketenschild in Osteuropa, der Russland seit langem ein Ärgernis ist, wird dadurch dem Kremlchef zufolge obsolet. Die neuen Wunderwaffen würden „wie ein Meteorit, wie ein Feuerball einschlagen“, verkündete Putin den begeisterten Zuhörern seiner Rede. Russland stelle mit diesem Durchbruch in der Materialforschung das „Gleichgewicht des Schreckens“ wieder her.

Dieser technologische Vorsprung könnte allerdings nun schon wieder dahin sein – wenn die aus dem russischen Geheimdienst durchgesickerten Informationen stimmen. Demnach hat Kudrjawzew die Infos nämlich an ein Nato-Land weitergegeben.

Um welchen Staat genau es sich handelt, ist bislang offen. Verfügt ein Nato-Land tatsächlich über Details über die russischen Systeme, dürfte das US-Verteidigungsministerium eingeweiht sein – und bereits daran arbeiten, mögliche Schwachstellen zu finden und Antwortstrategien zu erarbeiten.

Kudrjawzew bestreitet die Vorwürfe. Am Wochenende besuchte ihn der Bürgerrechtler Jewgeni Jenikejew. Ihm klagte der Wissenschaftler, Mitarbeiter des Inlandgeheimdienstes FSB hätten ihn am Freitagmorgen „noch vor dem Morgengrauen aus dem Bett geholt und mich nicht einmal mich richtig anziehen lassen“.

Kudrjawzew dürfte nicht die einzige Figur in dieser Spionagegeschichte sein. Der FSB hat bereits Hausdurchsuchungen beim „Zentralen Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Maschinenbau“ und dem Direktor der „Vereinigten Raketen- und Weltraum Kapitalgesellschaft“ (ORKK), Dmitri Paison, durchgeführt. Paison trat daraufhin von seinem Posten zurück. Er wird wohl nicht der letzte sein.

Beim Forschungsinstitut, zu dem auch die Bodenstation für die russischen Weltraumflüge zählt, wird nun jeder Stein umgedreht.

Der neue Roskosmos-Chef Dmitri Rogosin hat bereits sein Büro direkt in das Institut verlegen lassen. Bis Mai war Rogosin noch Vizepremier der Regierung, verantwortlich für den Rüstungssektor. Mit dieser Besetzung soll die Kontrolle des Instituts massiv verstärkt werden. Immerhin ist es sowohl für die strategische Ausrichtung des russischen Weltraumprogramms als auch für einen Großteil konkreter technologischer Entwicklungen an den Raketen verantwortlich.

Kudrjawzew selbst drohen bis zu 20 Jahre Haft, wenn er schuldig gesprochen wird. Natürlich könnte er auch ausgetauscht werden – womöglich gegen die in den USA festgehaltene Russin Maria Butina, die US-Medien zufolge versucht haben soll, Einfluss auf konservative Politikkreise zu nehmen und dabei finanziell vom russischen Dollarmilliardär Konstantin Nikolajew unterstützt wurde.

Einen ähnlichen Fall gab es bereits vor acht Jahren. Damals wurden zehn russische Agenten gegen vier westliche ausgetauscht. Unter den überstellten Russen waren die zum russischen Bond-Girl titulierte Anna Chapman und der wegen Hochverrats in russischer Haft sitzende Physiker Igor Sutjagin.

Einer der Beteiligten damals war auch der frühere Geheimdienstoffizier Sergej Skripal. Die Vergiftung Skripals in Großbritannien belastet seit dem Frühjahr das Verhältnis zwischen Russland und westlichen Staaten.