Schwere Katastrophe droht auch in Deutschland
Kann es auch in Deutschland zu einer Erdbebenkatastrophe kommen? Experten zögern bei der Antwort nicht: Ja ! Nach Beweisen lässt sich graben.
Das Feld bei Eilendorf in der Nähe von Aachen wirkt an dem Herbsttag 2022, als sei die Welt untergegangen. Aus dem dunkelgrauen Himmel fallen Sturzbäche in den Graben, den Wissenschaftler ausgehoben haben und den sie nun eilig abzudecken versuchen. Unter der Folie verschwindet ein Schnitt in die Erde, der eine deutliche Verschiebung im Erdreich zeigt. Mindestens zwei sehr starke Erdbeben haben hier ihre Spuren hinterlassen.
Die Männer und Frauen, die hier arbeiten, sind Paläoseismologen der RWTH Aachen. Die Experten in der Nähe von Aachen gehen den Spuren nach, die starke Erschütterungen in der Vergangenheit hinterlassen haben. Deshalb stellt sich für sie erst gar nicht die Frage, ob ein Erdbeben wie in der Türkei und Syrien auch in Deutschland passieren kann. Und wenn sie jemand stellt, antworten sie: Es ist schon passiert. Vielfach. t-online visualisiert in einer Karte solche Beben der Vergangenheit, die Deutschland getroffen haben und bisher nachgewiesen werden konnten.
1,20 Meter Versatz durch Beben
Die Paläoseismologen kommen mit ihren Erkenntnissen den schweren Erdbeben in Deutschland näher – und der Frage, wann es wo zu einem neuen kommen könnte. Das Bundesamt für Katastrophenschutz hat sogar prognostiziert, wie schlimm es sein könnte, und warnt: Deutschland ist schlecht vorbereitet.
Am Graben in Stolberg sagt Jochen Hürtgen vom Lehr- und Forschungsgebiet Neotektonik und Georisiken: „Der Versatz von 1,20 Meter spricht dafür, dass es hier mindestens zwei Erdbeben der Stärke 6,5 gegeben hat“. Das Team um ihn und den weiteren Projektleiter Klaus Reicherter hat damit das zutage gefördert, was sie veranlasst hatte, an dieser Stelle baggern zu lassen.
Hier verläuft die sogenannte Feldbiss-Störung, und eine Auswertung des Geländes hat starke Hinweise geliefert, dass die Erde hier heftig bebte und Überreste zu finden sein könnten. Mit Proben und genauen Analysen wird bestimmt, wann das der Fall war. Und damit wächst die Möglichkeit, die Gefahr abschätzen zu können.
Viele Beben der Vergangenheit lassen Rückschlüsse zu: Wenn klar ist, in welchen Abständen die Erde hier in der Vergangenheit heftig bebte, wird deutlich, wie wahrscheinlich ein neues Beben ist. „Unser Ziel ist eine bessere seismische Gefährdungsabschätzung“, erläutert Hürtgen.
In Garmisch 6,1er-Beben vor 4.100 Jahren
Paläoseismologen wissen, dass nicht nur der Raum Aachen in der Vergangenheit betroffen war. In vielen Teilen Deutschlands gab es schon schwere Beben. Im Raum Garmisch-Partenkirchen kam es vor 4.100 Jahren zu einem Erdbeben der Stärke 6,1, wie Paläoseismologe Patrick Oswald nach Bohrungen in Alpenseen nachweisen konnte. Ein solches Beben würde heute vermutlich verheerende Bergstürze auslösen, noch im 80 Kilometer entfernten München würde es wohl zu Schäden kommen.
In Karlsruhe machten Forscher 2020 eine ähnliche Entdeckung, als sie am Rand des Oberrheingrabens dortige Erdschichten untersuchten. Sie entdeckten klare Hinweise auf mehrere schwere Erdbeben um die Stärke 6,5, das letzte wohl vor rund 3.000 Jahren.
In Bielefeld wurde ein Beben der Stärke von mindestens 5,5 vor circa 15.000 Jahren nachgewiesen. Es stand offenbar im Zusammenhang mit dem Ende der Eiszeit: Ohne den Druck des Eises hob sich der Boden – und zwar mit einem plötzlichen Ruck. Deshalb lässt sich hier wenig lernen für die heutige Erdbebengefahr.
An anderen Orten gibt die Frequenz der Beben aber Anhaltspunkte, wann es wieder so weit sein könnte. Besonders relevant ist diese Frage für die Niederrheinische Bucht, also die Region, in der beim Besuch im Herbst der Regen auf die Folie über der Grabungsstelle prasselte.
Als die Wissenschaftler später abgerückt sind und das Loch verfüllt ist, zeigen ihre Auswertungen, dass an diesem Ort sogar mindestens drei Beben nachgewiesen werden können. Untersuchungen von Bodenproben im Labor und deren Auswertung zur Altersbestimmung laufen und werden auch mehr Erkenntnisse über die Häufigkeit bringen.
Kölner Dom durch 70 Kilometer entferntes Beben beschädigt
Dass die Region besonders anfällig für Erdbeben ist, liegt auch daran, dass die Feldbiss-Störung nur eine der tektonischen Bruchstellen ist. Die Rurrand-Störung etwa sorgte 1992 dafür, dass im Kölner Dom eine 400 Kilogramm schwere Kreuzblume abbrach und ins Seitenschiff stürzte. Das Epizentrum des Bebens mit der Magnitude 5,5 lag damals 70 Kilometer von Köln entfernt, kurz hinter der niederländischen Grenze.
1756 traf das wahrscheinlich stärkste Erdbeben, das es in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland gab, die Stadt Düren zwischen Köln und Aachen. Auf die Magnitude 6,4 wird es geschätzt: Viele Gebäude stürzten ein, es gab Todesopfer und auch Erdrutsche in der Umgebung der Stadt.
Mit einem Erdbebenszenario für die besonders gefährdete Kölner Bucht haben sich unterschiedliche Stellen explizit befasst. 1998 ermittelte eine für die Rückversicherung MunichRe erstellte Studie, dass ein Beben der Stärke 6,4 Schäden in Höhe von 94 Milliarden D-Mark, also knapp 50 Milliarden Euro, auslösen würde.
„Auf das Unglaubliche vorbereitet sein: Ein schweres Erdbeben am Rhein“, schrieb dann das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe 2020 über eine Pressemitteilung. Mit Experten anderer Behörden erstellte das Bundesamt die Analyse für den Bundestag. So wie es auch den Fall einer Pandemie analysiert hatte. Das Pandemie-Papier hatte manches von dem vorgezeichnet, was durch das Corona-Virus passierte – und Deutschland trotzdem unvorbereitet traf.
„Die flächendeckende spezifische Vorbereitung auf ein Erdbebenereignis in den gefährdeten Regionen ist aktuell nicht gegeben“, schreibt das Bundesamt nüchtern in seiner Analyse. Diese skizziert ein verheerendes Bild.
Ein Szenario geht so: Ein Beben der Stärke 6,5 ereignet sich an der Erft-Störung ohne Vorwarnung an einem Vormittag, die Menschen sind auf der Arbeit oder dem Weg dorthin, Kinder in Schulen und Kitas. Es gibt mehrere Tausend Tote und Verletzte, große Zerstörungen, Brücken und Tunnel stürzen ein, der Strom fällt tagelang aus und damit auch die Wasserversorgung.
„Annahmen extrem, aber denkbar“
„Die Annahmen sind extrem, aber dennoch denkbar“, kommentierte das Bundesamt seine eigene Analyse. Der Bericht listet auch auf, wo die größten Probleme liegen: Bei Verwaltungen sei die eigene Funktionsfähigkeit nicht sichergestellt. Etwa an Notstromaggregaten, die an verschiedensten Stellen benötigt würden, gäbe es dann einen enormen Mangel. Viele Arztpraxen seien betroffen, in den Kliniken der Region müsse es zur Triage kommen – und Krankenhauskapazitäten müssten deutschlandweit genutzt werden.
Der Bericht schlägt vor, die Bevölkerung anders zu sensibilisieren. Als positives Beispiel wird ein „ShakeOut Day“ in Aachen genannt, wo Schüler schon einmal das Verhalten bei einem Erdbeben geübt haben. Generell wird an Schulen eine Überprüfung der Erdbebensicherheit der Gebäude empfohlen. Für die Forschung lautete die erste Empfehlung: paläoseismische Untersuchungen im gesamten Bundesgebiet. Es brauche einen möglichst vollständigen Datensatz der Erdbebentätigkeit in historischer Zeit als Grundlage für die Abschätzung der Erdbebengefährdung.
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Das Szenario und die vielfältigen Handlungsempfehlungen wurden 2020 als Bericht an den Bundestag veröffentlicht, einige Medien berichteten darüber. Passiert ist wenig. Nach einer Aufforderung der Bezirksregierung haben die Krankenhäuser in der Region ihre Alarmpläne überprüft, von einem Fachverband wurde dazu ein Leitfaden erarbeitet, der auch in anderen erdbebengefährdeten Gebieten genutzt werden könnte. Ansonsten: Fehlanzeige. Das Bundesamt teilt heute mit: „Weitere Initiativen oder Aufträge basierend auf den Ergebnissen der Risikoanalyse sind uns nicht bekannt.“
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