Deutschland rast auf die Energie-Katastrophe zu

Drohende Kettenreaktion bei Gasabschaltungen befürchtet

  1. „Notfallmaßnahmen“, die noch nicht weit genug gehen sollen
  2. Russland hielt sich immer an Verträge – nun sanktionsbedingt nicht mehr
  3. Stadtwerke und Kommunalversorger warnen

Dass Deutschland endgültig die Weichen in Richtung hausgemachte Energiekrise gestellt hat, wird nun sogar von von offizieller Seite eingeräumt. Fatih Birol, Leiter der Internationalen Energieagentur (IEA), hat die europäischen Staaten eindringlich aufgefordert, sich umgehend auf den Totalausfall der russischen Gasimporte vorzubereiten. Nirgends wirkt sich diese durch die eigenen Sanktionen verschuldete Krisenfolge allerdings schlimmer aus als in der „bunten Republik“ Deutschland.

Die russische Entscheidung, die Gaslieferungen zu drosseln, sei nur die Vorstufe zu einem völligen Lieferstopp, so Birol: „Je näher wir dem Winter kommen, desto mehr verstehen wir die Absichten Russlands“, sagte er. „Ich glaube, dass die Kürzungen darauf abzielen, zu vermeiden, dass Europa die Speicher füllt, und Russlands Einfluss in den Wintermonaten zu erhöhen.“ Vor einem solchen Szenario hatte die IEA bereits frühzeitig gewarnt. Die in dieser Woche von den europäischen Regierungen beschlossenen Notmaßnahmen, wie das Anheizen alter Kohlekraftwerke, seien, trotz der Bedenken über die steigenden Kohlenstoffemissionen, angesichts des Ausmaßes der Krise gerechtfertigt.

„Notfallmaßnahmen“, die noch nicht weit genug gehen sollen

Der „vorübergehende“ Anstieg der Stromversorgung mit Kohle werde zum Erhalt der Gasversorgung im Winter beitragen. Die durch die Kohleverbrennung entstehenden zusätzlichen CO2-Emissionen würden durch die europäischen Pläne zur Verringerung der Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen und zum Aufbau erneuerbarer Erzeugungskapazitäten ausgeglichen, meinte er weiter. Dennoch gingen die Notfallmaßnahmen der Regierungen noch nicht weit genug. Man müsse alles tun, um die Vorräte zu erhalten, damit die Lager vor dem Winter gefüllt werden könnten.„Ich glaube, dass es mehr und tiefgreifendere Nachfragemaßnahmen [durch die Regierungen in Europa] geben wird, wenn der Winter näher rückt“, so Birol.

Eine Rationierung der Gaslieferungen bleibe eine reale Möglichkeit, wenn Russland die Lieferungen weiter reduziere. Birol rief auch dazu auf, die Abschaltung von Kernkraftwerken zu verzögern, um die Menge des für die Stromerzeugung verbrauchten Gases zu begrenzen. Mit eindeutiger Richtung auf Deutschland, sagte er, alle Länder sollten in Betracht ziehen, „die Stilllegung [von Kernkraftwerken] zu verschieben, solange die Sicherheitsbedingungen gegeben sind.“ Vom Dogma der erneuerbaren Energien wich Birol trotz allem jedoch nicht ab. Der Verbrauch fossiler Brennstoffe müsse unbedingt reduziert werden. „Wenn die Regierungen nicht das Ruder in die Hand nehmen und umfangreiche Mittel für eine saubere Energiewende mobilisieren, werden wir mit extremen Schwankungen der Energiepreise zu kämpfen haben“, befand er. Birol betonte, es gebe zwar einige positive Anzeichen für wachsende Investitionen in sauberere Energieformen, doch weltweit sei das Bild bestenfalls gemischt. Außer in China, das er nach wie vor zu den Entwicklungsländern zählt, seien die Investitionen in erneuerbare Energien seit 2015 nicht mehr gestiegen. Dies sei „einer der beunruhigendsten Trends“, hieß es in einem IEA-Bericht.

Russland hielt sich immer an Verträge – nun sanktionsbedingt nicht mehr

In Deutschland wird man nun wach: Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller warnte in einem kürzlichen Interview vor einem Totalausfall der russischen Gaslieferungen. Die Lage sei „angespannt, wenn nicht sogar sehr angespannt.“ Russland habe sich „über Jahrzehnte – ganz gleich, wie schlecht die Beziehungen waren – an geltende Verträge gehalten.“ Das sei „seit einigen Tagen anders.“ Russland habe „die Lieferung durch die wichtigste Gasader – Nord Stream 1 – nach Deutschland und Europa um 60 Prozent gedrosselt. Die technischen Gründe, die dafür genannt werden, überzeugen uns nicht“, sagte Müller.

Er äußerte die Befürchtung, dass aus der für diesen Monat angekündigten alljährlichen Wartung „eine länger andauernde politische Wartung wird.“ Wenn der Gasfluss aus Russland „länger anhaltend abgesenkt wird, müssen wir ernsthafter über Einsparungen reden.“ Er appelliere an die Bevölkerung, so viel Energie wie möglich einzusparen. Haus- und Wohnungsbesitzer sollten schnell ihre Gasbrennwertkessel und Heizkörper überprüfen und effizient einstellen lassen. Eine Wartung könne „den Gasverbrauch um 10 bis 15 Prozent senken“, sagte er. Dies müsse jetzt, nicht erst im Herbst passieren. Müller wollte nicht ausschließen, dass auch Privathaushalte nicht mehr über Gas verfügen könnten, wenn man dies auch mit allen Mitteln verhindern wolle. „Wenn es zu einer Rationierung kommt, müssen wir zuerst im industriellen Bereich den Verbrauch reduzieren“, erklärte er. Man sehe allerdings „kein Szenario, in dem gar kein Gas mehr nach Deutschland kommt.“

Stadtwerke und Kommunalversorger warnen

Inzwischen warnte der Verband kommunaler Unternehmen (VkU) mit Blick auf die finanziellen Schwierigkeiten des größten deutschen Gasimporteurs Uniper davor, die gestiegenen Beschaffungskosten für Gas an die Kunden weiterzugeben. VkU-Chef Ingbert Liebing forderte, „eine Anpassung des Energiesicherungsgesetzes mit besseren Instrumenten, um die Preisspirale zu dämpfen und die Versorgungssicherheit zu erhalten.“ Würden die höheren Preise an die Kunden weitergegeben, helfe das den Stadtwerken wenig.

Zudem würden viele Kunden die höheren Preise ohnehin nicht zahlen können, was wiederum „auch viele unserer eigentlich kerngesunden Stadtwerke in Liquiditätsnöte und schlimmstenfalls an den Rand der Insolvenz bringen” würde. Das Kippen einer „kritischen Masse an Stadtwerken“ könne zu einer „Kettenreaktion“ und zu „chaotischen Zuständen am Energiemarkt führen, die definitiv die gesamte Energiewirtschaft in die Bredouille bringen und die Versorgungssicherheit quasi von Grund auf gefährden würde.” Zielführender sei es, wenn man Unternehmen wie Uniper bereits auf der Importstufe stütze. „Je frühzeitiger und weiter vorn in der Wertschöpfungskette der Bund eingreift, desto besser für Energiewirtschaft und Kunden”, so Liebig. Er forderte, dass auch Stadtwerke und kommunale Energieversorger im außerbörslichen Handel abgesichert würden, anstatt nur auf die Preisweitergabe an die Kundinnen und Kunden zu hoffen.