Schwere Vorwürfe erschüttern Deutschlands Ausbildungsstätte für liberale Rabbiner. Hier erklärt Interimsdirektorin Gabriele Thöne, warum das Kolleg keine Fehler gemacht habe – und was sie ändern will.
SPIEGEL: Frau Thöne, der SPIEGEL und andere Medien haben über mutmaßliche Missstände am Abraham Geiger Kolleg berichtet: sexualisierte Belästigung durch einen ehemaligen Mitarbeiter, Machtmissbrauch, eine Kultur der Angst. Wie weit sind Sie mit der Aufarbeitung gekommen?
Thöne: Die Aufarbeitung findet auf verschiedenen Ebenen statt. Die Universität Potsdam hat eine Aufklärungskommission eingesetzt, der Zentralrat der Juden eine Anwaltskanzlei mit einer Untersuchung beauftragt. Nichtsdestotrotz sind wir ein selbstständiges Institut, und deshalb ist es wichtig, dass wir eigene Erkenntnisse gewinnen. Dies gilt insbesondere für die Neustrukturierung: Die muss, um erfolgreich und nachhaltig realisiert werden zu können, von innen kommen.
SPIEGEL: Wie gehen Sie vor?
Thöne: Ich will, dass diese Fragen der Vergangenheit möglichst noch dieses Jahr aufgearbeitet werden, und habe schon mit 80 bis 100 Personen geredet. Darunter die beiden Personen, bei denen Vorwürfe sexualisierter Belästigung im Raum stehen. Darüber hinaus sind mir keine solchen Fälle bekannt. Aber es ist ein Prozess, meine Tür ist offen.
SPIEGEL: Mit wem haben Sie noch gesprochen?
Thöne: Mit Zuwendungsgebern, Lehrenden, Mitarbeitern, Alumni und Studierenden des Kollegs und auch mit anderen Institutionen, um zu schauen: Was könnte Machtmissbrauch gewesen sein? Was stellt ihr euch darunter vor?
»Ist die Struktur geeignet, Angst zu verbreiten?«
SPIEGEL: Haben Sie in diesen vielen Gesprächen auch über eine Kultur der Angst geredet?
Thöne: Ein Schwerpunkt meiner Aufgabe ist die Neustrukturierung. Wenn das Wort Angst aufkommt, werde ich hellhörig und frage mich: Ist die Struktur geeignet, Angst zu verbreiten? Ich muss aber auch einmal sagen, dass es viele anderslautende Äußerungen gab. Viele Studierende sagen: Wir haben hier wunderbar studiert.
SPIEGEL: Uns haben mehrere Menschen geschildert, dass Missstände am Kolleg übersehen oder ignoriert worden seien, auch weil die Abhängigkeit vom ehemaligen Direktor Walter Homolka so groß gewesen sei. Ein Professor hat dem Kolleg Vertuschung vorgeworfen, weil ein Fall von mutmaßlicher sexualisierter Belästigung durch den Lebenspartner des Direktors intern nicht sauber aufgearbeitet worden sei. Der Lebenspartner bestreitet die Vorwürfe. Hat das Kolleg Fehler gemacht?
Thöne: Es gab in diesem Fall 2020 eine interne Untersuchungskommission, die sich aufgrund vorhandener Compliance-Regeln aus internen Mitarbeitenden zusammengesetzt hat; das war sachlich richtig so. Aber wir werden uns in diesen Fragen bemühen und international auf Best-Practice-Beispiele schauen.
SPIEGEL: Kann es sein, dass mutmaßlich Betroffene dem Kolleg nun misstrauen und deshalb nicht mit Ihnen sprechen?
Thöne: Ich erlebe als Gesprächspartnerin zunehmend Offenheit – und dass ich ernst genommen werde.
SPIEGEL: Studierende haben in einer Stellungnahme geschrieben, die Situation werde sich erst dann verbessern, »wenn die gesamte Führungsriege des Kollegs ausgetauscht ist«.
Thöne: Bei 21 Unterschriften haben inzwischen etliche Studierende dementiert, eine solche Stellungnahme unterschrieben zu haben, sechs von ihnen schriftlich. Der Brief ist nicht authentisch. Wir haben keine Anhaltspunkte, dass irgendeine Unterschrift echt ist.
SPIEGEL: Und damit ist die Forderung nach weiteren personellen Konsequenzen für Sie hinfällig?
Thöne: Ich lege das Thema nicht ad acta, sondern nehme es ernst. Aber wir müssen auch sehen: Sehr viele Menschen haben eine andere oder differenziertere Position.
SPIEGEL: WalterHomolka ist weiterhin Geschäftsführer des Abraham Geiger Kollegs. Nach unseren Recherchen steht er im Zentrum der als toxisch beschriebenen Kultur am Kolleg. Wie wollen Sie damit umgehen, wenn Sie das Kolleg neu strukturieren?
Thöne: Ich muss immer wieder zurück zur Definition meiner Aufgabe gehen. Sie lautet: Erhalt der Institution, unabhängig von irgendwelchen Einflüssen. Ich kann nicht alles zerreißen und rechtsstaatliche Gesichtspunkte missachten. Es ist juristisch auch gar nicht möglich, dass er nicht mehr Geschäftsführer ist.
SPIEGEL: Sie meinen, Sie wollen sich nicht durch den Zentralrat der Juden beeinflussen lassen? Dessen Präsident Josef Schuster sagte kürzlich, unter den aktuellen personellen Umständen scheine eine Neuaufstellung am Kolleg kaum möglich. Und diese Woche lädt der Zentralrat offenbar Studierende des Kollegs zum Gespräch.
Thöne: Ich möchte mich von niemanden beeinflussen lassen.
SPIEGEL: Noch einmal die Frage: Ist angesichts der Vorwürfe gegen den ehemaligen Direktor eine Zukunft des Kollegs mit ihm als Geschäftsführer denkbar?
Thöne: Diese Frage werde ich Ihnen nach der Untersuchung beantworten.
SPIEGEL: Wie soll Ihre Neustrukturierung denn aussehen?
Thöne: Mir ist es wichtig, die liberale Tradition des Kollegs aufrechtzuerhalten und gestärkt aus diesem Prozess herausgehen zu lassen. Es gibt Ideen aus den USA, die über die Gespräche mit internationalen Alumni einfließen, da geht es etwa um flachere Hierarchien. Ich schaue auch: Wo können wir, ohne die Selbstbestimmungsrechte der Religionsgemeinschaften zu verletzen, partizipative Elemente einbauen?
»Niemand kann mir vorwerfen, parteiisch zu sein«
SPIEGEL: Was heißt das?
Thöne: Zum Beispiel: Wie sieht es aus mit Beiräten? Darin könnten Alumni sitzen, die wissen, was die Praxis braucht und was die Ausbildung bringt. Wir erhalten zum Beispiel verschiedene Hinweise von jüngeren Studierenden, dass Aspekte der Rabbinerausbildung antiquiert seien.
SPIEGEL: Sie sind nicht jüdisch und haben keine theologische Ausbildung. Sind Sie die Richtige für den Job?
Thöne: Mich begleitet das Engagement für den interreligiösen Dialog schon seit vielen Jahren. Ich versuche, immer wieder Wege zu finden, dass wir miteinander reden und voneinander lernen. Was hier gefragt ist: erstens hinhören, zweitens organisieren, drittens eine neue Struktur finden.Das kann unabhängig von religiösen Fragen stattfinden, und so kann mir auch niemand vorwerfen, parteiisch zu sein. Wichtig ist mir aber, dass die inhaltliche und strukturelle Unabhängigkeit des AGK vom anderen jüdischen Organisationen bei der Neuorganisation erhalten bleibt. Und ebenso wichtig ist mir eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit allen engagierten jüdischen und nicht jüdischen Institutionen.
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