Die Zerstörungen im Hochwassergebiet am Ural und in Südsibirien halten an. Auch Nordkasachstan ist betroffen, scheint aber besser gewappnet zu sein.
MOSKAU taz | Das Wasser in der Borissogleb-Straße in der Altstadt von Orsk ist nach Tagen zurückgegangen. Geblieben sind Baumstämme, Äste, herumliegende Autoreifen, schiefe Zäune, umgeworfene Kühlschränke. Matsch ist überall. Draußen in der Auffahrt, im Garten, im Schlafzimmer. Und viel Leid. Manchen Orsker*innen hatte das Hochwasser des Ural alles genommen.
Tagelang hatte sich das Wasser weit über seinen normalen Pegel in mehreren Stadtteilen dieser 200.000-Einwohner*innen-Industriestadt an der Grenze zu Kasachstan gestaut, manche Straßen sind weiterhin eine hellbraune Wassermasse.
Der Damm, der die Stadt in der Steppe hätte schützen sollen, hatte dem Druck des Tauwassers und der abgelassenen Wassermassen eines nahegelegenen Staudammes nicht standgehalten und war an mehreren Stellen gebrochen. Eine vorhersehbare Katastrophe, die die Behörden dennoch überrascht hatte, auch weil sie die Bedenken der Anwohner*innen übergangen hatten. Bis heute stehen nach Behördenangaben im gesamten Gebiet Orenburg mehr als 15.000 Häuser in den Fluten.
Den politischen Schaden versucht die Gebietsverwaltung seitdem nur ungelenk zu begrenzen. Der Orenburger Gouverneur Denis Pasler verspricht Kompensationen und lässt kaum eine Gelegenheit aus, um den Stadtbewohner*innen mitzuteilen, dass es auch anderen Menschen auf der Welt nicht gut gehe.
Viele Stadtteile stehen noch unter Wasser
Manche Beamt*innen machen die Orsker*innen gar selbst für das Unglück verantwortlich. Diese stehen unterdessen für ein paar Flaschen sauberen Trinkwassers an und hoffen darauf, dass in ihren Häusern endlich wieder das Gas und der Strom eingeschaltet würden. „Es ist kalt, nass und hoffnungslos. Wer weiß, wann die Hilfe bei uns ankommt“, sagt eine Bewohnerin am Telefon.
Während in Orsk die ersten Gutachter*innen ausgerückt sind, um den Schaden dort zu ermessen, wo das Wasser bereits zurückgegangen ist, stehen viele Stadtteile in der Regionalhauptstadt Orenburg mit einer halben Million Einwohner*innen noch unter Wasser.
Bei manchen Häusern sind nur die Dächer zu sehen, auch wenn der Scheitelpunkt laut Behörden überschritten ist. Der Ural hatte in Orenburg, etwa 300 Kilometer westlich von Orsk und 1.500 Kilometer östlich von Moskau entfernt, einen Höchststand von 11,87 Meter erreicht. Das sind fast zweieinhalb Meter über der als kritisch definierten Marke. Am Montagmittag lag der Pegel noch bei 11,6 Metern. „Endlich geht es ein wenig zurück“, schreiben Orenburger*innen in ihren Chats.
Hochwasser auch in Kasachstan
In Südsibirien spitzt sich die Lage dagegen zu: Knapp 1.000 Kilometer nordöstlich von Orenburg überschwemmt der Fluss Tobol die Regionalhauptstadt Kurgan mit knapp 330.000 Einwohner*innen und die angrenzenden Ortschaften. Zwei Brücken hatte die Flut bereits zerstört. „Nehmen Sie ihre Familien, Dokumente, Wertsachen und gehen Sie möglichst früh!“, schrieb der Gebietsgouverneur Wadim Schumkow in seinem Telegram-Kanal.
Auch Kasachstan leidet unter Hochwasser, scheint aber besser auf die Naturkatastrophe vorbereitet zu sein. Mehr als 100.000 Menschen hatten die Behörden bereits im Vorfeld evakuiert. Die Stadtverwaltungen verstärken die Dämme. Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew sagte das für Juni geplante internationale Forum in der kasachischen Hauptstadt Astana ab, bei dem Vertreter*innen aus Politik und Wirtschaft aus unterschiedlichen Ländern über aktuelle Themen diskutieren wollten.
Bilder, wie Arbeiter Sandsäcke anschleppen und die Flussufer des Ural, der auch in Kasachstan fließt, verstärken, erreichen auch die Menschen in Orsk. Sie sind voller Bewunderung für die Behörden Kasachstans. „Da werden die Probleme wenigstens ernst genommen, uns hat man dem Schicksal überlassen und windet sich aus der Verantwortung“, schreibt einer namens Alexei in einem Orsker Chat. Gebietsgouverneur Denis Pasler hatte noch in der vergangenen Woche erklärt, „alle“ seien „schuld“ am Dammbruch. Man solle die Katastrophe dazu nutzen, um enger zusammenzurücken und gestärkt aus der Situation herauszugehen.
Eine Flutkatastrophe ist nicht karriereförderlich
Dass untere Behörden in Russland gar nicht eigenverantwortlich handeln, liegt auch am System, das Präsident Wladimir Putin jahrelang errichtet hatte. Die Macht ist so sehr auf ihn als einzigen konzentriert, dass sich regionale Vertreter*innen gar nicht trauen, auf irgendeine Art eigenmächtig zu handeln. Sie haben gar kein Interesse, sich in komplizierten Fragen zu verheddern.
Und sie setzen sich lediglich dort ein, wo sie den größten Nutzen für ihre Karriere vermuten. Eine Flutkatastrophe ist kaum karriereförderlich. Deshalb hat es auch eine gewisse Logik, wenn sich Menschen in Orsk, Orenburg oder Kurgan auf den Straßen versammeln und Videobotschaften für Putin aufnehmen. „Wladimir Wladimirowitsch, helfen Sie uns“, rufen sie in die Kameras.
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