„Ich darf mich rühmen, von der Bundesregierung offiziell als Antisemit eingestuft worden zu sein“

(von Florian Rötzer)

Moshe Zuckermann über den in Deutschland gepflegten Antisemitismus und Israel als Apartheidstaat.

Du hast mir gestern einen Brief des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland, der auf Anfrage der Volkshochschule Heilbronn erklärt, dass du antisemitisch eingestellt bist, eine israelfeindliche Einstellung hast. Es ging vor allem aber um den BDS. Ein Herr Kaminski, der persönliche Referent des Bundesbeauftragten, meinte, dass du eine umstrittene Person bist, was den Staat Israel angeht. Der einzige Beweis dafür, dass du angeblich mit dem BDS zusammenhängst, ist, dass du einmal offenbar an einer Veranstaltung teilgenommen haben sollst, die vom BDS organisiert worden ist. Hauptabschreckung war wahrscheinlich, dass es in dem Brief heißt, dass man damit rechnen muss, wenn man eine Veranstaltung mit dir hier in Deutschland macht, dass eine „entsprechend intensive Kritik“ aufkommt. Der VHS-Direktor müsse also mit Schwierigkeiten rechnen. Das scheint der Grund zu sein, warum von einem Tag auf den anderen die Veranstaltung mit dir von der Volkshochschule abgesetzt hat. Sie hat trotzdem mit dem Heilbronner Friedensrat stattgefunden. Aber was sagst du zu dem Vorgehen, dass ein solcher Druck auf Institutionen ausgeübt werden kann, obwohl dir nicht wirklich Antisemitismus nachgewiesen worden ist? Es wäre ja auch wirklich seltsam, dich als Juden, der in Israel lebt, aus Deutschland des Antisemitismus zu bezichtigen. Was geht dir bei diesem Einknicken vor dem Druck durch den Kopf?

Moshe Zuckermann: Warum der Mensch von der Volkshochschule eingeknickt ist? Das ist ziemlich klar in dem Moment, in dem ich als Antisemit eingestuft werden könnte. Warum er sich überhaupt dazu hergegeben hat, bei dem Bundesbeauftragten nach einem Gutachten zu fragen? Vorwegnehmender Gehorsam?  Warum hat er  sich darauf eingelassen, dass er recherchieren muss, ob ich Antisemit bin oder nicht?

Offenbar war ja diese deutsch-israelische Gesellschaft im Vorfeld aktiv.

Moshe Zuckermann: Das ist genau die Sache. Die Deutsch-Israelische Gesellschaft ist im Grunde genommen nur ein Ableger der jüdischen israelischen Propaganda. Von Deutschland ist da nur insofern etwas darin, dass die bilateralen Beziehungen sich ganz nach Israel ausrichten und die Israelis den Ton angeben. Das ist ein Verein, der von der Bundesregierung unterstützt wird. Und wie die Politik der Bundesregierung ist, das wissen wir ja. Ich rede jetzt nicht nur von Olaf Scholz, sondern es war seit den 1950er Jahren immer so, dass man sich verpflichtet hat, nachdem die Wiedergutmachung gezahlt wurde, Israel nie zu kritisieren, sondern Israel immer sowohl ökonomisch als auch politisch zu unterstützen.

Axel Springer, der das Medienimperium in Deutschland innehatte, hat persönlich die Essentials vorgegeben, die alle Medien des Springerimperiums beachten müssen. Dazu gehört, dass Israel nie kritisiert werden darf und immer unterstützt werden muss. Deshalb findet man auch nirgends  in der Springerpresse eine Israelkritik. Das war nicht nur bei der Springerpresse und bei den deutschen Medien so, sondern das war auch die offizielle Politik Deutschlands. Die jüdischen Gemeinden wollten sich nach dem Zweiten Weltkrieg bedeckt halten, weil sie selbst sagten, Juden hätten in Deutschland nichts verloren. Deshalb hieß es, man sitze auf den Koffern. In den 1980er Jahren sind sie aber wieder selbstbewusst und heute so tonangebend geworden, dass jedes Mal, wenn Israel in irgendeiner Weise auch nur andeutungsweise kritisiert wird, sie gleich mit dem moralischen Zeigefinger und mit dem Antisemitismusvorwurf kommen. Es gab ja auch die mittlerweile evaporierte Gruppe der sogenannten Antideutschen, die in dieser Hinsicht seinerzeit viel Unheil angerichtet haben.

Warum dem so ist, ist klar. Die deutsch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert war so, dass Deutschland eine Verantwortung übernehmen musste für das, was man den Juden angetan hat. Aber was dann? Sehr bezeichnend ist, dass die Wiedergutmachungsabkommen gleich mit Israel abgeschlossen worden sind, obwohl das ein Staat war, der zum Zeitpunkt des Holocaust noch existiert hat. Wiedergutmachung wurde nicht den Juden, sondern dem Staat Israel gegenüber geleistet. Die großen Gelder sind an den Staat Israel gegangen, der das in den 1950er Jahren auch gebrauchen konnte.

Mittlerweile ist zum Fetisch geworden, dass Israel der Adressat für jede Art von deutscher Sühne-Bekundung oder von Schuldselbstzuweisung ist. Man braucht von Israel sozusagen eine Absolution. Der Staat Israel wusste natürlich das sich selber zunutze zu machen und hat angefangen, den Holocaust und das Gedenken auch in Israel selbst zu instrumentalisieren und zum Politikum zu machen. Das war interessengeleitet, damit man auch in Israel im Innern Feinde ausschalten kann. Ich kann also nicht nur in Deutschland von einem Deutschen als Antisemit beschimpft werden, sondern auch in Israel können Leute wie ich von hiesigen Politikern als Linke ausgeschaltet werden, indem man ihnen Vorwurf macht, dass sie sich selbst hassende Juden seien.

Das kennt man natürlich hier auch, dass man intern eine Ausgrenzung durchführt, indem man Deutsche als Antideutsche bezeichnet. Bei Juden spielt aber noch das Ethnisch-Religiöse mit hinein?

Moshe Zuckermann: Es ist ja noch viel schlimmer als das. Du listest die Kategorien auf, ohne in Frage zu stellen, welches Recht sich Deutsche überhaupt herausnehmen, die Juden zu klassifizieren, zu kategorisieren und ihnen Antisemitismus vorzuwerfen? Wenn ich kurz persönlich werden kann: Ich bin der Sohn von Holocaustüberlebenden, meine Eltern waren Auschwitzüberlebende, und dann muss ich mir von irgendwelchen deutschen Beauftragten sagen lassen, dass ich Antisemit sei, weil ich das Land, in dem ich lebe, kritisiere und als Bürger dieses Landes auch eine bürgerliche Verantwortung habe, dieses Land zu kritisieren. Kritikwürdig ist beispielsweise das 50 Jahre bestehende völkerrechtswidrige und entmenschlichende Okkupationsregime. Jeder anständige Mensch muss da kritisch werden, weil ein ganzes anderes Volk schikaniert wird. Allein die Tatsache, dass ich mir herausnehme, das als verantwortungsvoller Bürger hier zu machen, gilt für die Deutschen dann als Indiz dafür, dass ich Antisemit sein muss.

Es gibt ja diese internationale Arbeitsdefinition von der IHRA, die ursprünglich nichts mit Israel zu tun hatte. Israel hat dann darauf gedrückt, dass das, was man heute Israel bezogenen Antisemitismus nennt, als Kriterium angefügt wurde. Damit kann man Leute erstens wirklich ausschalten und zweitens durch den Vorwurf kaltstellen. Ich muss mich wirklich zusammennehmen, wenn ich jetzt Folgendes sage: Ich habe Ende der 1990er Jahre Martin Walser sehr heftig kritisiert, dass er von der „Auschwitzkeule“ gesprochen hat. Mittlerweile frage ich mich, ob meine Kritik damals an Walser wirklich so berechtigt gewesen ist. Welche Gründe ihn auch bewogen haben mögen, so ist es mittlerweile in der Tat so geworden, dass man jeden in Deutschland damit kaltstellen kann. Man hat einfach Angst. Warum hat die Volkshochschule zurückgesteckt, obwohl sie ursprünglich mit mir die Veranstaltung machen wollte? Weil sie Angst hat, als antisemitisch apostrophiert werde. Du kannst heute in Deutschland am besten Leute mundtot machen und einen Maulkorb aufsetzen, wenn du sagst: Ihr seid Antisemiten. Und dann ist es beliebig, wie du sie in den Antisemitismus hinein manipulierst.

Die große Frage ist für mich, wie das möglich ist, dass Juden oder israelkritische Juden von Deutschen so attackiert werden können. Und die Frage ist auch:  Wie kommt es eigentlich, dass Deutsche sich gefallen lassen, dass man sie mundtot macht, indem man sagt, Ihr seid ja Antisemiten, wenn ihr euch jetzt beispielsweise mit den Palästinensern solidarisiert. Sie haben am 7. Oktober zwar Schlimmstes angerichtet, aber haben mittlerweile das Vier-, Fünf- oder Sechsfache abbekommen. Wie kann man denn als normaler Mensch noch gut schlafen, wenn man weiß, dass die Armee deines Landes in den letzten fünf Monaten über 12.000 Kinder getötet hat? Das ist also die Mindestzahl. Dazu kommen noch viele Frauen und Unbeteiligte. Und das Erschreckende dabei ist, dass in Israel nichts zur Ruhe kommt. Die Leute würden am liebsten diesen Krieg bis zum Ende führen.

Wir haben schon einmal darüber gesprochen, dass Netanjahu Privatinteressen hat und dass der Staat mehr oder weniger jetzt seinen Interessen untergestellt wurde. Das große Problem ist, dass man in diesem Land nicht leben kann, ohne kritisch zu werden. Dazu muss man kein radikaler Linker sein, sondern einfach kritisch werden, weil hier seit 50 Jahren eine barbarische Okkupation stattfindet, weil ein anderes Volk seit über einem halben Jahrhundert schikaniert und unterdrückt wird und man sich jetzt, wie gesagt, gar nicht mehr einkriegen kann, bis man alles in Gaza zu einer Mondlandschaft gemacht hat. Wer da keine Empathie empfindet … Allein die Tatsache, dass Juden die Idee haben können, die Leute dort aushungern zu lassen, Juden, die immer die Erinnerung von den Lagern und den Ghettos gehabt haben. Was der Hunger oder der Hungertod bedeutet, ist noch immer ein zentrales Motiv bei Holocaustüberlebenden. Allein die Tatsache, dass israelische Juden heute fähig sind, mit dieser Möglichkeit  zu operieren, die Leute auszuhungern, damit der Widerstand ganz gebrochen wird, ist für mich als Jude, als der Sohn von Holocaustüberlebenden und überhaupt als denkender Mensch einfach ein Unding.

Für mich ist die Hamas keine Befreiungsbewegung. Es ist eine religiös-fundamentalistische Bewegung, mit der Menschen wie ich überhaupt nichts am Hut haben. So wie ich die Fundamentalisten bei uns im Westjordanland als meinen größten Feind ansehe, habe ich auch die Hamas nie für eine ernst zu nehmende Widerstandsbewegung gehalten. Aber okay, jetzt ist passiert, was passiert ist am 7. Oktober, und das ist schon schlimm genug. Wie soll es jetzt weitergehen? Soll man wirklich ganz Gaza dem Erdboden gleich machen? Und wenn man das sagt, nimmt sich so ein Verein wie die Deutsch-Israelische Gesellschaft, die für meine Begriffe wirklich nichts als ein Ableger des Propagandaministeriums in Israel ist, heraus, mich nicht nur als Antisemiten einstufen zu lassen, sondern auch zu versuchen, eine Veranstaltung von mir zu vereiteln. Das ist nicht gelungen, weil der Friedensrat von Heilbronn den Ort verlegt hat. Aber es ist dazu gekommen, dass ich mich rühmen darf, von der Deutschen Bundesregierung offiziell als Antisemit eingestuft worden zu sein, das können nicht viele Leute.

Gehen wir ganz kurz auf die Punkte ein, die da genannt worden sind. Es ging nicht um den Gaza-Krieg erstmal, sondern um den BDS. Was sagst du dazu?

Moshe Zuckermann: Das ist erstunken und erlogen. Man verweist auf die Tatsache, dass ich an einer Konferenz teilgenommen hat, deren Veranstalter BDS-Anhänger sind. Mit wem kann ich eigentlich in Palästina heute noch reden? Natürlich sind viele Palästinenser BDS-Anhänger sind, weil sie unter Israel leiden. Ich persönlich war nie BDS-Anhänger und habe deren Forderungen nicht verbreitet. Ganz im Gegenteil habe ich mich in mindestens zwei schriftlich publizierten Aufsätzen aus dem ganz einfachen Grund dagegen gewandt, weil ich meine, dass der BDS ineffektiv ist. Die Situation ist nicht mit der der Boykottbewegung gegen Südafrika vergleichbar. Nicht weil Israel viel besser ist als Apartheidstaat, sondern weil man heute nicht mehr die ganze Welt wie seinerzeit gegen Südafrika zusammenbringen kann, damit sie Israel boykottiert.

Wenn es durch eine Boykottbewegung zum Ende der Besatzung und dann zu den Friedensverhandlungen kommen würde, dann würde ich sagen, mir sind alle Mittel recht. Aber das ist nie der Fall gewesen. Ganz im Gegenteil. Jedes Mal, wenn ein Boykott gegen Israel aus dem Ausland ausgesprochen wurde, kamen die von mir als ein linker Professor an der Universität eingeladenen linken Kollegen aus dem Ausland nicht zu meinen Veranstaltungen in Israel, aber die Rechten und Rechtsradikalen und Liberalen kamen. Also das war nur ein Schuss ins eigene Bein. Deshalb habe ich immer schon habe ich mich immer schon gegen die diese Bewegung geäußert, auch wenn ich ihre Beweggründe nachvollziehen kann.

„Israel ist ein Apartheidstaat“

Sehr aufschlussreich ist auch, dass offenbar nicht recherchiert worden. Man hätte das auch nachlesen können. Es wird wahrscheinlich im Internet nur nach irgendeiner Verbindung gesucht und dann, zack,  schnappt die Falle zu. Das kenne ich auch in anderen Bereichen, beispielsweise in Bezug angeblich prorussische Positionen. Findet man eine Kontaktschuld, dann ist alles zu Ende.

Moshe Zuckermann: Die Amerikaner nennen das Guilty per Association. Ich habe an einer Veranstaltung irgendeines Vereins teilgenommen, der BDS-Anhänger ist. Dadurch, dass ich mit ihm in Verbindung getreten bin, bin ich auch mitschuldig. Das ist  von der Recherche her unterstes Niveau …

Und auch eine gefährliche Entwicklung. Sie kam vor allem nach 9/11 auf, wo man versucht hat, womöglich gefährliche Islamisten über Kontakte herauszufinden, Rasterfahndung wird man das vielleicht in Deutschland nennen. Das ist seitdem Mode geworden und auch zur Praxis, die jetzt überall zur Diffamierung von Positionen durchgeführt wird.

Moshe Zuckermann: Der zweite Punkt, den man mir vorgeworfen hat, ist, dass ich Israel als einen Apartheidstaat verurteile.

Gegenüber allen Nichtjuden, heißt es. Das wäre der Rest der Welt.

Moshe Zuckermann: Ja, Israel ist ein Apartheidstaat. Dafür habe ich meine Kriterien, und die muss man mir erst einmal widerlegen. Es gibt Israel und das Okkupationsregime. Obwohl Israel sowohl das Westjordanland als auch das Kernland Israel beherrscht, gibt es zwei Justizsysteme. Das ist das bürgerliche Justizsystem in Israel und das andere ist das Militär-Justizsystem im Westjordanland. Bitteschön, zwei Justizsysteme. So was nennt man Apartheid.

Gilt das Justizsystem im Westjordanland nur für die Palästinenser oder auch für die Siedler, die dort leben?

Moshe Zuckermann: Nur für die Palästinenser natürlich. Die Siedler sind nach dem israelischen Gesetz Bürger. Die Palästinenser sind keine Bürger und dem Militär-Justizsystem unterworfen. Auch physisch ist das bemerkbar. Wenn man nach Hebron geht, da gibt es eine ganze Menge Straßen, auf denen nur die jüdischen Siedler  fahren dürfen. Das wurde zum Schutz vor Anschlägen gemacht. Ich kann mich noch erinnern, dass der damalige Außenminister Sigmar Gabriel nach Hebron gekommen ist und sich das angeschaut hat. Er war vollkommen entsetzt und sagte, das sei doch Apartheid. Er musste übrigens am nächsten Tag zurückrudern, weil die deutsche Regierung ihn aufgefordert hat, das zurückzunehmen, weil man mit Israel sich nicht anlegen wollte.

Israel ist ein Apartheidstaat. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen, aber das ist vielleicht nicht als Apartheid zu bezeichnen, dass die Araber, die im Kernland Israel leben, Bürger zweiter Klasse sind. Sie werden wirklich benachteiligt in der Ressourcenverteilung, beim Niveau ihrer Erziehungssysteme, beim Zugang zu den Eliten. Mit ihren Parteien werden die zionistischen Parteien nie koalieren. Und jetzt kannst du fragen, warum soll man mit nichtzionistischen Parteien koalieren? Die jetzige Regierung koaliert auch mit den orthodoxen Juden, die allesamt keine Zionisten sind. Wenn das kein Rassismus ist, wenn das keine Schikane und Diskriminierung, dann möge man mir erklären, was das sonst sein soll. Ich nenne das nicht Apartheid, aber das, was Israel im Westjordanland betreibt, das ist für mich Apartheid. Und wenn man mich dafür jetzt angreifen will, dann sollen sich gefälligst der Herr Felix Klein und sein persönlicher Referent der Diskussion stellen und mir erklären, wie sie das benennen würden. Ich meine, ich verzichte eigentlich auf eine Begegnung mit denen.

Das Konstrukt des israelbezogenen Antisemitismus

Darauf würde möglicherweise der israelbezogene Antisemitismus herangezogen werden.

Moshe Zuckermann: Ja, das ist ja die ganze Sache. Israel hat den israelbezogenen Antisemitismus interessengeleitet in die Definition hineingequetscht. Wir, also ungefähr 300 oder 400 Unterzeichner aus aller Welt und hauptsächlich Juden, haben dann in der Jerusalemer Deklaration den israelbezogenen Antisemitismus kritisiert. Das ist Quatsch. Es mag Menschen geben, die israelkritisch und auch Antisemiten sind, aber Menschen, die Israel kritisieren, prinzipiell als Antisemiten darzustellen, ist diese perfide Politik, die Israel betreibt, um nicht kritisiert zu werden und unbeschadet zu bleiben.

Es heißt in der Erläuterung, natürlich dürfe man den Staat Israel oder die Regierung Israels kritisieren, aber wenn das Kollektiv der Juden dafür verantwortlich gemacht wird, dann sei das eben israelbezogener Antisemitismus. Wobei mir vollkommen unklar ist, was damit gemeint ist.

Moshe Zuckermann: Was heißt das Kollektiv der Juden? Israel ist repräsentiert durch seine Regierung, ebenso wie Deutschland durch seine Regierung repräsentiert ist. Das ist so in der repräsentativen Demokratie. Wenn Israel durch seine Regierung repräsentiert ist, dann betreibt Israel seit 1967 über alle Regierungen hinweg ein Okkupationsregime. Am Anfang war das eher noch eine Frage, dass man ein Pfand in den Händen haben wollte für künftige Verhandlungen. Aber seit Mitte der 1970er Jahre haben keine Verhandlungen mehr stattgefunden, ganz im Gegenteil hat man angefangen zu besiedeln. Alle Regierungen, einschließlich der Rabin-Regierung, haben völkerrechtswidrig besiedelt. Jede neue Siedlung, die dort entsteht, ist völkerrechtswidrig und ein Kriegsverbrechen.

Wenn man im Sinne des Völkerrechts argumentiert, muss man das kritisch angehen. Dass dann Israel insgesamt kritisiert wird, ist klar, weil es eben die Regierung ist, die das im Westjordanland zulässt. Akiva Eldar und Idith Zertal haben vor 20 Jahren ein Buch mit dem Titel „Die Herren des Landes“ geschrieben. Sie hatten die Siedler im Westjordanland damals schon als die eigentlichen Beherrscher dieses Landes gesehen. Bei der jetzigen Regierungskoalition ist das wirklich auf den Punkt gebracht worden, wenn Ben-Gvir und Smotrich das Sagen haben. Netanjahu kann keine Bewegung machen ohne diese Leute. Das sind die Herren dieses Landes. Das muss man wirklich auch sehen. Und solche Leute wie meine Wenigkeit oder diejenigen, die gar nicht groß linksliberal sind, sondern nur in irgendeiner Weise überlegen, wie wir uns aus dieser Schlinge, die entstanden sind, entwinden können, stehen heute vollkommen machtlos da.

„Indem man sich mit den Juden solidarisiert, versteckt man, dass man die eigene Schuld noch nicht verarbeitet hat“

Aus der deutschen Sicht heraus ist es schizophren, dass man die völkerrechtswidrige Okkupation nicht wirklich thematisiert und deswegen auch vermeidet, von Apartheid zu sprechen, aber so tut, als würde man weltweit nun gegen jede völkerrechtswidrige Annektierung vorgehen. Da stimmt doch irgendwas nicht.

Moshe Zuckermann: Ich kann mir schon vorstellen, dass es Deutsche gibt, für die Israel das Land der Juden ist, wie es sich auch selbst bezeichnet. Schon bei Herzl ist das Land ein Sonderfall für die Deutschen, eben wegen der deutschen Geschichte. Aber da verfängt man sich eben in all diesen Widersprüchen, die wir versuchen darzustellen. Warum wird gerade in Deutschland so aggressiv gegen israelkritische Juden vorgegangen? Das hat, glaube ich, mit einem latenten Antisemitismus zu tun.

Gerade diejenigen, die so israelfreundlich und philosemitisch daherkommen, sind vom gleichen Ressentiment angetrieben wie die Antisemiten. Warum? Weil man sich die Juden im Grunde genommen gar nicht konkret anschaut. Es ist ja eine Abstraktion, womit man da operiert. Beim Philosemiten sind sie alle Genies und Einsteins. Und bei den Antisemiten sind sie alle  die schlimmsten Kapitalisten oder die größten Revolutionsführer.  Das Problem besteht darin, dass in beiden Fällen dasselbe Ressentiment den Juden gegenüber geäußert wird, weil man nicht über den konkreten Juden spricht.

Die Judenfreundschaft hat in Deutschland zu einem Zeitpunkt stattgefunden, als nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1990 nicht mehr als 35.000 Juden hier gelebt haben. Juden haben gesagt, sie hätten in diesem Land nach dem, was ihnen hier widerfahren ist, nichts mehr verloren. Deshalb hat man alles auf Israel projiziert, weil die in Deutschland lebenden Juden sich auch bedeckt halten wollten. Sie fanden sich selbst schuldig, dass sie überhaupt in Deutschland leben.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind dann viele, vor allem Russen, nach Deutschland gekommen. Heute spricht man von 180.000 oder 200.000 Juden in Deutschland. Das ist noch immer ein Klacks, gemessen beispielsweise daran, wie viele Türken dort leben. Und noch immer redet man irgendwie großartig von „den“ Juden. Man merkt schon, wie viel Aggression dahinter steckt. Indem man sich mit den Juden solidarisiert, versteckt man das, was man im Grunde genommen den Juden gegenüber verübelt, nämlich die Tatsache, dass man die eigene Schuld noch nicht verarbeitet hat. Aber diese Schuld, die man nicht verarbeitet hat, ist inzwischen zum Politikum geworden. Ich fand immer, dass die deutsche Aufarbeitung der Vergangenheit bemerkenswert war, verglichen mit dem, was die Franzosen oder die Engländer gemacht haben, die in ihren Kolonialreichen auch eine ganze Menge von Verbrechen an anderen Völkern begangen haben. Mittlerweile meine ich, dass das wirklich zum Fetisch geronnen ist und kein Halt mehr geboten ist. Die Leute sind ja vollkommen wahnsinnig geworden. Für mich ist so ein Felix Klein,  sein persönlicher Referent und die Deutsch-Israelische Gesellschaft ein Symptom dafür, dass im Grunde genommen gar nichts wirklich aufgearbeitet worden ist.

Du hast gerade gesagt, dass die in Deutschland gepflegte Haltung damit zusammenhängt, dass kaum Juden hier in Deutschland leben, aber es dafür den Staat Israel.  Es sind auch sehr viele Roma von den Deutschen hingeschlachtet getötet worden. Daran wird zwar auch erinnert und man fühlt sich verantwortlich, aber es gibt keine Entität, keinen Roma-Staat, die Roma leben verstreut über Europa. Ist das vielleicht auch ein Grund, warum die Bekämpfung des Anti-Ziganismus im Vergleich mit der des Antisemitismus kaum eine Rolle spielt.

Moshe Zuckermann: Ich habe heute herausgefunden, nachdem ich zur Erinnerungskultur Deutschlands recherchiert habe, dass es auch einen Beauftragten für die Roma und Sinti gibt.

Das wusste ich gar nicht.

Moshe Zuckermann: Ich wusste es auch nicht. Aber du hast vollkommen recht, das ist überhaupt nicht miteinander zu vergleichen. Wir wissen ja auch, wie die Konzentrationslager begonnen haben. Lange vor den Juden kamen erstmal politische Gegner rein. Zuerst waren die Kommunisten und Sozialdemokraten dran. Dann waren es die Homosexuellen und das „lebensunwerte Leben“. Die  Juden bildeten dann natürlich die große Quantität. Aber wenn man die Gedenkkultur wirklich auf den Punkt zu bringen hätte, dann ist die große Frage, warum man nicht von dem, was an den Juden verbrochen worden ist, ein allgemeines Postulat zur Erinnerung der Opfer ab? Warum nur einen Antisemitismusbeauftragten? Warum nicht einen Rassismusbeauftragten? Warum nicht einen Beauftragten für Xenophobie, also Fremdenfeindlichkeit? Warum keinen für Islamophobie?

Es gibt genügend ethnische, kulturelle und religiöse Ressentiments. Warum wird da nicht ein allgemeiner Beauftragter dafür nominiert? Aber das hat eben damit zu tun, dass man sich das auserkoren hat. Das begann, wie gesagt, schon in den frühen 1950er Jahren mit den Wiedergutmachungsgeldern und dann mit der Springerpresse. Das ist nun so weit gekommen, dass man heute diesen hanebüchenen Quatsch betreibt. Für meine Begriffe, wenn ich das mal so sagen darf, kontaminiert man gerade damit das Andenken an die Opfer, indem man das immer wieder so entstellt und so perfide für politische Interessen verwendet.

Parallel ist es doch in Israel auch so, dass die Erinnerung an den Holocaust offenbar nicht dazu führt, dass mehr Menschlichkeit einzieht, sondern dass man einen mörderischen Krieg im Gazastreifen führt, der in faschistischer Weise die Auslöschung oder die Vertreibung eines Volkes intendiert. Das ist auch verrückt.

Moshe Zuckermann: Ich glaube, ich war derjenige, der in Israel in den 1990er Jahren den Begriff der Instrumentalisierung des Andenkens des Holocaust eingeführt hat. In Israel gedenkt man nicht so sehr der Opfer, sondern man instrumentalisiert das Andenken der Opfer, um politische Interessen zu verfolgen und die Vorurteile auszubeuten, unter anderem das Abwimmeln von jeglicher Kritik aus Europa oder Amerika.


Kommentare

Eine Antwort zu „„Ich darf mich rühmen, von der Bundesregierung offiziell als Antisemit eingestuft worden zu sein““

  1. Moshe Zuckermann, ein Kind von Holocaust-Überlebenden,
    wird im „besten Deutschland“ zum Antisemiten „erhoben“

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