Wer ist Alessandro Diddi, der Staatsanwalt des Papstes, der einen Kardinal hinter Schloss und Riegel bringen will?

Er hat den Anführer einer römischen Verbrecherbande verteidigt. Er will herausfinden, was mit dem 15-jährigen Mädchen passiert ist, das vor 40 Jahren im Vatikan verschwand. Doch Alessandro Diddis neuster Fall ist heikler als alles zuvor.

Anwalt, Professor, oberster vatikanischer Strafverfolger: Die vielen Rollen des Alessandro Diddi.

Die Launen des menschlichen Gehirns führen manchmal in die Irre. Wer bei den Begriffen «Gericht» und «Vatikan» an Michelangelo Buonarrotis Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle denkt, folgt zwar einer nachvollziehbaren Assoziation. Aber sie passt kaum zum Prozess um undurchsichtige vatikanische Finanzgeschäfte, der dieser Tage in Rom zu Ende geht.

Erstens, weil hier, im Gerichtssaal oberhalb der vatikanischen Museen, anders als auf Michelangelos Fresko alle angezogen sind: Richter, Staatsanwalt und Vertreter der Angeklagten tragen schwarze Roben, teilweise verziert mit goldenen oder silbernen Kordeln. Manchmal blitzt extravagantes italienisches Schuhwerk hervor, das vom zivilen Stilbewusstsein der Würdenträger zeugt. Zweitens, weil der Saal in seiner ganzen Nüchternheit an eine Mehrzweckhalle im schweizerischen Mittelland erinnert und keinen himmlischen Lichtstrahl hereinlässt.

Es ist kalt und zugig, Prozessbeobachter und Journalisten behalten zunächst ihre Mäntel an. Die Beamten der vatikanischen Gendarmerie tragen Handschuhe. An der Wand prangt ein Porträt von Papst Franziskus.

Diddi zeigt «beträchtliche Strenge»

Seit über 2 Jahren wird an dieser Stätte über einen Finanzskandal von weltweiter Brisanz verhandelt. Es ist in mehrerlei Hinsicht ein besonderer Prozess. Zum ersten Mal ist ein Kurienkardinal angeklagt. Der 75-jährige Italiener Angelo Becciu, als früherer Substitut die Nummer zwei im päpstlichen Staatssekretariat, soll mitverantwortlich dafür sein, dass der Vatikan ab 2014 ein verlustreiches Immobiliengeschäft in London tätigte. Bei dem Geschäft soll dem Heiligen Stuhl ein Schaden in der Höhe von bis 189 Millionen Euro entstanden sein. Mit Becciu sind 9 weitere Personen angeklagt, unter ihnen der Schweizer René Brülhart, der frühere Direktor und Präsident der päpstlichen Finanzmarktaufsicht (AIF).

Früher die Nummer zwei im vatikanischen Staatssekretariat: der Angeklagte Kardinal Becciu.

Im Zentrum des Prozesses steht der «Promotore di Giustizia», Alessandro Diddi. Der Promotore fungiert als Staatsanwalt des Vatikans. Es ist Montag und damit der zweitletzte Verhandlungstag, am Samstag wird das Urteil erwartet. Diddi hat noch einmal einen grossen Auftritt.

Punkt für Punkt zerpflückt er die Argumente der Verteidiger der 10 Angeklagten. Wenn er spricht – während fast 4 Stunden – rutschen die Anwälte der Angeklagten zuweilen nervös auf ihren Stühlen herum, tauschen sich flüsternd aus, gestikulieren. «Diddi hat seine Rolle mit beträchtlicher Strenge interpretiert», sagt Fausto Gasparroni, der Vatikanist der italienischen Nachrichtenagentur Ansa. Gasparroni hat als Beobachter an allen 85 Verhandlungstagen teilgenommen.

Diddi fordert die Verteidiger heraus, zweifellos. Als er im letzten Juli seine Strafanträge bekanntgab, schüttelten sie die Köpfe. Selbst aussenstehende Beobachter bewerteten Diddis Anträge damals als sehr hart. Nicht weniger als 73 Jahre Haft forderte der Promotore für alle 10 Angeklagten. Kardinal Becciu drohen 7 Jahre und 3 Monate Haft, ein Berufsverbot sowie eine Geldstrafe von über 10 000 Euro. Becciu werden Veruntreuung und Amtsmissbrauch vorgeworfen.

René Brülhart, der frühere Präsident der Finanzaufsichtsbehörde des Vatikans.

Auch den restlichen Angeklagten stehen lange Haft- und hohe Geldstrafen in Aussicht. Diddi wirft ihnen unter anderem Erpressung, Geldwäsche, Betrug und Korruption vor. Im Fall von René Brülhart lautet der Antrag auf 3 Jahre und 8 Monate Haft sowie auf eine Strafzahlung von über 11 000 Euro. Der Staatsanwalt wirft ihm Amtsmissbrauch vor, unter anderem, weil er in der Londoner Affäre nicht eingegriffen und verdächtige Zahlungen nicht gestoppt haben soll.

Bemerkenswerte persönliche Konstellationen

Papst Franziskus vertraut Alessandro Diddi, dem 58-jährigen Mann aus Padua, der seit über 30 Jahren in Rom als Anwalt tätig ist. Auch in einem anderen spektakulären Fall hat er diesen als Strafverfolger eingesetzt: Diddi soll Licht ins Dunkel des nie aufgeklärten Entführungsfalls Emanuela Orlandi bringen. Vor 40 Jahren verschwand die 15-jährige Tochter eines Vatikan-Angestellten spurlos. Eine Leiche wurde nie gefunden. Der Fall treibt Italien immer noch um. Erst vor wenigen Wochen hat der italienische Senat eine Untersuchungskommission eingesetzt, die parallel zu Diddi an der Aufklärung dieses mysteriösen Verbrechens arbeitet.

Der Papst verlange die Wahrheit über diesen Fall, betonte Diddi, der sich scheinbar mühelos zwischen den Welten dies- und jenseits des Tibers hin- und herbewegt. Seine Anwaltskanzlei hat er trotz vatikanischer Verpflichtungen nie aufgegeben, was ihm regelmässig den Vorwurf des Interessenkonflikts einträgt. Ausserdem ist er nach wie vor Professor für Strafprozessrecht an der Universität von Kalabrien, die ihren Sitz nahe der Stadt Cosenza hat.

Mitunter ergeben sich bei all diesen Verpflichtungen bemerkenswerte Konstellationen. Als er vor Jahren in einem grossen Mafia-Fall in Rom Salvatore Buzzi verteidigte, den sogenannten «König der Kooperativen», stand Diddi vor Gericht einem bekannten Staatsanwalt namens Giuseppe Pignatone gegenüber. Es ging um organisierte Kriminalität, bei der die römische Unterwelt wichtige Kommunalpolitiker und Beamte mit hohen Geldsummen bestochen haben soll. Pignatone verdächtigte Diddis Mandanten der Zugehörigkeit zur Mafia, unterlag aber vor Gericht.

Das vatikanische Gericht. In der Mitte Gerichtspräsident Giuseppe Pignatone.

Nun, Jahre später, stehen sich die beiden Männer wieder gegenüber, wenngleich in anderen Rollen: Während Diddi im Prozess um die Londoner Immobilie und weitere Finanzgeschäfte die Anklage vertritt, fungiert Pignatone als Vorsitzender des vatikanischen Gerichts. Papst Franziskus hatte den 74-jährigen Pignatone im Herbst 2019 an die Spitze des Gerichts berufen.

Seither verfolgen Prozessbeobachter gespannt, wie professionell die beiden agieren: Stellen sie ihre Rivalität zurück, oder beeinflusst diese ihr Verhalten im Prozess um Kardinal Becciu und Konsorten? Charakterlich könnten sie jedenfalls nicht unterschiedlicher sein: Hier der ambitionierte Diddi, der sich in Rage reden kann, bis ihm die Stimme versagt; dort der ausgleichende Pignatone, der auch einmal lächelt, scherzt und Spannungen im Saal die Spitze bricht. Vonseiten der Verteidigung wurde die delikate persönliche Konstellation im Verlauf der Verhandlungen hart kritisiert.

Gehorsam gegenüber dem Papst

Es ist vieles merkwürdig in diesem Prozess hinter vatikanischen Mauern. Für den Papst verkörpert er wohl das Bemühen, rechtsstaatliche Prinzipien auch im Vatikan durchzusetzen. «Der Papst wollte den Prozess unbedingt, er hat ihn nach Kräften unterstützt und gefördert», sagt Fausto Gasparroni. Der Pontifex habe sich ständig mit Diddi ausgetauscht.

Gleichzeitig zeigt das Verfahren aber auch die Grenzen des vatikanischen Systems. Der Papst ist im Vatikan Staatsoberhaupt, oberster Richter und oberster Gesetzgeber zugleich. «Die vatikanischen Richter sind ihm zu Loyalität und Gehorsam verpflichtet, mithin dem Recht im jeweiligen päpstlichen Verständnis», wie es der Publizist und katholische Theologe Rainer Hank einmal in der NZZ formuliert hat.

Im vorliegenden Fall hat Franziskus mindestens zweimal direkt eingegriffen. Einmal, als er dem Staatsanwalt zu Beginn der Ermittlungen im Jahr 2019 bestimmte Zuständigkeiten und Freiheiten «nur für diesen einen Prozess» übertrug und dies zunächst nicht kommunizierte; und ein zweites Mal, als er Kardinal Becciu 2020 den Rücktritt von allen Ämtern nahelegte und ihm alle Vollmachten nahm, die mit der Kardinalswürde verbunden sind – für die Verteidiger ein klarer Beweis für eine Vorverurteilung ihres Mandanten.

In Rom wagt kaum jemand eine Prognose darüber, mit welchen Urteilen der Prozess zu Ende gehen wird. Vieles hänge vom Papst ab, sagen die Beobachter und zucken mit den Schultern. Dass sein Porträt im nüchternen Gerichtssaal prangt, ergibt Sinn: Er ist der absolute Monarch, auch hier drin.

Für Ernesto Galli della Loggia, eine der wichtigen und kontroversen Stimmen unter den Kolumnisten des «Corriere della Sera», kann es angesichts der Umstände eigentlich nur eines geben: einen Freispruch für Kardinal Becciu. Es wäre eine harte Ohrfeige für den von Franziskus so geförderten Staatsanwalt Alessandro Diddi – und für alle, die an einer Aufklärung der undurchsichtigen Finanztransaktionen interessiert sind. «Aber», so Galli della Loggia, «haben wir uns im Verlauf des Pontifikats von Franziskus nicht an plötzliche Wendungen, plötzliche Stimmungs- und Perspektivenwechsel gewöhnt?»