Die Reichsbürger und der vermeintliche Putsch

Ein Jahr ohne Anklage in Untersuchungshaft

Am 7. Dezember 2022 wurden in einer Grossrazzia 27 Verdächtige festgenommen. Angeblich wollten sie in Deutschland einen politischen Umsturz anzetteln. Doch für eine Anklageerhebung reichen die Beweise bis jetzt offenbar nicht.

Polizisten am 7. Dezember 2022 bei der Grossrazzia gegen Reichsbürger.

365 Tage. 365 Nächte. Rund 1000 Anstaltsmahlzeiten. Seit einem Jahr sitzen 27 angebliche Mitglieder einer mutmasslichen Reichsbürger-Organisation in Deutschland in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, eine terroristische Vereinigung gegründet und einen gewaltsamen politischen Umsturz geplant zu haben. Der Fall wirft Fragen auf: Warum wurde nicht längst Anklage erhoben? Ist das Verfahren womöglich auch politisch motiviert? Und welche Rolle spielten V-Leute des Verfassungsschutzes?

Am 7. Dezember 2022 waren mehr als 3000 Ermittlungsbeamte, unter ihnen Angehörige der Polizei-Elitetruppe GSG 9, in elf Bundesländern im Einsatz, um Häuser, Wohnungen und Büros zu durchsuchen. Die sozialdemokratische Innenministerin Nancy Faeser sprach von einem «Abgrund terroristischer Bedrohung», der sich aufgetan habe. Der Fall erregte grosse, auch internationale Aufmerksamkeit. Bundesregierung und Strafverfolgungsbehörden schienen mit aller Entschlossenheit gegen die vermutete rechtsradikale Verschwörung vorgehen zu wollen.

Zwölf Monate später wird immer noch ermittelt, ohne dass bisher spektakuläre Ergebnisse an die Öffentlichkeit gedrungen wären. Da etliche Medienvertreter zum Zeitpunkt der Razzien erstaunlich präzise über das geplante Vorgehen der Behörden informiert gewesen waren, muss man davon ausgehen, dass entweder die Geheimhaltung bei den Sicherheitsbehörden drastisch verbessert wurde – oder dass es allzu Spannendes bis jetzt nicht zu verraten gibt.

Ein Anwalt rechnet mit «dollen Strafen»

Anwälte, die sich mit dem Verfahren befassen, rechnen allerdings mit einer Anklageerhebung noch vor Weihnachten. Beim Generalbundesanwalt, der die Ermittlungen leitet, wird dies weder bestätigt noch dementiert. Ist die Anklage dem Gericht zugegangen, wird sie an die Beschuldigten und ihre Verteidiger weitergegeben. Diese haben dann vier Wochen Zeit, um Stellungnahmen zu formulieren. Mit dem Beginn des Prozesses wäre wohl frühestens im kommenden Frühjahr zu rechnen.

«Wir sprechen über Leute, die sich manchmal getroffen und miteinander geredet haben», sagte ein Pflichtverteidiger kurz vor dem Jahrestag der Razzia im Gespräch mit der NZZ: «Getan hat bisher niemand von ihnen etwas. Jetzt sitzen sie seit einem Jahr in Einzelhaft, die Anwaltspost wird gelesen, die öffentliche Vorverurteilung ist da. Da stellt sich schon ein wenig die Frage nach der Verhältnismässigkeit.»

Der Strafverteidiger fürchtet, dass der «Riesenaufwand» der Durchsuchungen, der behördlicherseits angeheizte Medienrummel, die gewaltige Zahl vernommener Zeugen und die angehäuften Aktenberge zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden könnten: «Nach einem solchen Aufstand müssen ja dolle Strafen verkündet werden», sagt er: «Auf keinen Fall kann das Gericht die 27 Leute einfach nach Hause schicken.»

Der Prozess als Signal an die AfD?

Der Jurist hält den Prozess für politisch eingefärbt: «Dass die Truppe schwachsinnige Umsturzphantasien gepflegt hat, ist klar», sagt er. «Ob sie davon wirklich viel hätten umsetzen können, ist aber fraglich.» Unter den Beschuldigten hätten auch krude QAnon-Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen über Ausserirdische kursiert.

Nach Meinung des Anwalts soll das Verfahren vor allem eine Signalwirkung in Richtung der umfragestarken Rechtspartei AfD entfalten. «An ein AfD-Verbot wird sich niemand herantrauen», sagt er. «Aber wenn die Reichsbürger, unter denen ja auch ehemalige AfD-Mitglieder sind, so richtig etwas auf den Kopf bekommen, dann werden sich AfD-Anhänger insgesamt vielleicht vorsichtiger und defensiver verhalten.»

Eine andere Beschuldigten-Anwältin sieht die Verdächtigen grundsätzlich kritischer: «Man kann natürlich den Eindruck haben, dass das einfach ein Haufen harmloser Irrer ist», sagt sie, «aber etliche von ihnen haben akademische Abschlüsse, militärische Kenntnisse, eine ganze Menge Geld oder Waffen.» Insofern seien die Aktivitäten der Gruppe nicht banal gewesen.

Ihr mache allerdings Sorgen, wie weit der Begriff der Unterstützung bei terroristischen Vereinigungen ausgelegt werde. «Da sind schon Leute Helfer, die mal ein paar Brötchen geschmiert oder eine vage Spendenzusage gemacht haben.» Auch verselbständigten sich manche Formulierungen: So sei in den Medien häufig vom «militärischen Arm» der Organisation die Rede – «ob der wirklich existierte, da habe ich meine Zweifel».

Welche Rolle spielten V-Leute des Verfassungsschutzes?

Für die Verteidiger ist das Mammutverfahren auf jeden Fall eine Herausforderung. Beim Bundeskriminalamt ermitteln Hunderte von Beamten; hinzu kommen die Landesbehörden. 466 dicke Ordner umfasst die 300 000-seitige Akte, und da sind die auf USB-Sticks gespeicherten Dokumente aus den beschlagnahmten Computern noch nicht mitgerechnet. Dieses Bergs an Unterlagen können eigentlich nur Grosskanzleien mit Heerscharen von wissenschaftlichen Mitarbeitern Herr werden.

In der Anwaltschaft rechnet man damit, dass das Verfahren in mehrere, vermutlich drei Teile aufgespalten wird, die wohl in Stuttgart, Frankfurt am Main und München verhandelt werden sollen. «Das macht man, weil Prozesse mit mehr als zehn Beschuldigten schwer zu handhaben sind», sagt der Pflichtverteidiger. Die Anwälte erwarten, dass in ihren Verfahren die jüngst erst im Deutschen Bundestag beschlossene Möglichkeit zur Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung eingesetzt wird.

Völlig unklar ist bis jetzt, welche Rolle V-Leute des Verfassungsschutzes oder verdeckte Ermittler in den ganzen angeblichen Umsturzplänen gespielt haben könnten. Davon, dass solche zum Einsatz kamen, gehen die von der NZZ befragten Anwälte aus. Für das Strafmass ihrer Mandanten wäre es von entscheidender Bedeutung, ob diese selbst geplant und sich verschworen haben oder ob sie möglicherweise dazu angestiftet wurden.


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