Verrückte Geschichte: Der Nazi und der Zionist

Die Nahost-Ereignisse seit dem 7. Oktober zwingen einen förmlich, sich genauer mit Israel zu beschäftigen. “I stand with Israel” reicht längst nicht, selbst dann nicht, wenn man im Grunde durchaus mit Israel “standet“, etwa, weil man die arabischen “Sprenggläubigen” sowieso nicht leiden kann.

Wenn man sich also mit Israel und dem Zionismus beschäftigt, stößt man u.a. auch auf die hier unten abgebildete Münze – und über die Münze auf Leopold von Mildenstein und Kurt Tuchler sowie auf den israelischen Dokumentarfilm “Die Wohnung” von Kurt Tuchlers Enkel, Arnon Goldfinger. Der Film erhielt zahlreiche Preise, u.a. den “Bayerischen Filmpreis” im Jahr 2011. Die “Bundeszentrale für politische Bildung” zum Inhalt: “Als Gerda Tuchler mit 98 Jahren in Tel Aviv stirbt, trifft sich die Familie zur Wohnungsauflösung. Inmitten unzähliger Briefe, Fotos und Dokumente entdeckt ihr Enkel Spuren einer unbekannten Vergangenheit (…) In der Wohnung seiner verstorbenen Großeltern entdeckt der israelische Filmemacher Arnon Goldfinger Spuren einer unbekannten Vergangenheit. Die Großeltern waren mit einem SS-Offizier befreundet.”

Dieser SS-Offizier war nicht irgendjemand, sondern Leopold von Mildenstein, NSDAP-Mitglied schon vor 1933. Mildenstein wurde von Reinhard Heydrich im Range eines SS-Untersturmführers für die “Abteilung II/112: Juden im SD-Hauptamt” eingestellt. Dort rekrutierte er Adolf Eichmann, der dann ab 1939 das berüchtigte “Judenreferat” unter sich hatte. Eichmann war nach dem Krieg nach Argentinien geflohen, wurde dort vom Mossad aufgespürt und nach Israel entführt, wo ihm 1961 der Prozess gemacht wurde. Am 1. Juni 1962 wurde der Organisator der Judentransporte in die Vernichtungslager hingerichtet.

Die Geschichte der Freundschaft zwischen den Ehepaaren Kurt und Gerda Tuchler, die aus ihrer Heimat Deutschland vertrieben worden waren, und dem ranghohen Nazi von Mildenstein und dessen Ehefrau, ist ansich schon verstörend, wird aber vollkommen unbegreiflich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sie belegbar bis mindestens 1956 andauerte, vielleicht sogar noch länger. Von Mildenstein wurde nach dem Krieg PR-Berater von Coca-Cola Deutschland. Er starb 1968, Kurt Tuchler zehn Jahre nach ihm. Die Familie Tuchler reiste nach dem Krieg jährlich einmal nach Deutschland und traf sich dort mit den befreundeten von Mildensteins. Obwohl Kurt Tuchler sehr engagierter Zionist gewesen ist, hatten er und seine Frau Gerda Israel anscheinend nur als eine persönliche Notlösung begriffen, waren aber im Herzen immer Deutsche geblieben.

Unzweifelhaft hegte von Mildenstein, ein fremdsprachenkundiger und polyglotter Nazi, bereits in der ersten Häfte der Dreißiger Jahre seines Lebens Sympathie für Zionisten und die Idee eines “Judenstaates“, wie er vom Begründer des politischen Zionismus’, Theodor Herzl (1860-1904), mit Erscheinen seines gleichnamigen Buches im Jahr 1896 skizziert worden war. Das heißt, daß der Holocaust vielleicht zur letztgültigen Begründung für die Notwendigkeit eines sogenannten Judenstaates in Palästina wurde, aber die Idee dazu bestand zum Zeitpunkt seiner Gründung  schon seit etwa einem halben Jahrhundert.

Über Theodor Herzl wiederum ist zu lesen, er sei der Ansicht gewesen, daß Juden eine Nation seien und daß aufgrund von Antisemitismus, gesetzlicher Diskriminierung und der gescheiterten Aufnahme von Juden in die europäischen Gesellschaften ein jüdischer Staat gegründet werden müsse. “Antisemitismus” ist insofern ein irreführender Begriff, als daß nicht nur Juden Semiten sind, sondern alle Angehörigen der semitischen Sprachfamilie, auch die Araber. Herzl gilt jedenfalls als einer der Begründer des politischen Zionismus, was nahelegt, daß die religiösen Aspekte des Judentums nicht im Zentrum seiner Überlegungen gestanden haben könnten. Wikipedia: “Der junge Herzl war von den zeitüblichen Stereotypen über das Judentum geprägt und betrachtete Juden als minderwertige, unmännliche, unablässig mit Gelderwerb beschäftigte Menschen ohne Idealismus.” – womit er zumindest in seinen Jugendjahren eine ähnliche Haltung eingenommen hätte, wie Jahrzehnte später die Nationalsozialisten.

Die “Judenfrage” als soziale Frage

Allerdings identifizierte sich Herzl zugleich auch mit der Geschichte der Juden als Opfer und bewunderte die jüdische Standfestigkeit angesichts ihrer jahrundertelangen Verfolgung. Der Begründer des politischen Zionismus war ursprünglich deutschnationaler Burschenschafter. Erst als er wegen des “Waidhofener Beschlusses” aus seiner Verbindung verstoßen wurde, begann er sich für die jüdische Nation einzusetzen und vehement die Gründung eines jüdischen Staates in Israel zu fordern. Noch 1892/1893 hatte Herzl die “Judenfrage” zunächst als eine soziale Frage begriffen, die durch organisierten Massenübertritt jüdischer Jugendlicher zum christlichen Glauben zu lösen sei. In einem Brief an den Publizisten Moritz Benedikt hatte er geäußert, keine Hemmungen zu haben, pro forma zum Christentum zu konvertieren. Er könne so beruflich schneller vorankommen und seinen Kindern Diskriminierungen ersparen. Ebenfalls im Jahr 1893 entwickelte Herzl einen Plan für die Massenkonversion österreichischer Juden zum Katholizismus Daß die Nazis bei der Verwirklichung ihres technokratisch-euphemistisch als “Endlösung” verbrämten Massenmordes an den Juden keinen Unterschied mehr machten zwischen politischen Zionisten und dem Judentum als Religion, steht außer Frage. Davon verschwindet dieser Unterschied heute aber nicht und meinereiner fragt sich, wie es denn aussieht mit den Überschneidungen zwischen Zionisten und orthodoxen Juden und wie groß die Schnittmengen tatsächlich sind. Ein Rabbi gab neulich zu bedenken, daß das Judentum mehrere tausend Jahre alt sei, der Zionismus aber erst etwa hundert Jahre.

Sowohl Kurt Tuchler als auch der ranghohe Nazi Leopold von Mildenstein waren fraglos Zionisten – und man muß die unbequeme Frage stellen, ob sie sich nicht mit dem jugendlichen Theodor Herzl einig gewesen sind in dessen damaliger Einschätzung der Juden als “minderwertigen, unmännlichen, unablässig mit Gelderwerb beschäftigten Menschen ohne Idealismus” – und ob eben deswegen der Holocaust evident nicht dazu geeignet gewesen war, ihre Freundschaft zu zerstören. Der deutsche Zionist Tuchler, in Israel im Exil, hatte sich, wie der Dokumentarfilm seines Enkels Arnon Goldfinger beweist, während der ganzen Jahre in Tel Aviv als Deutscher begriffen, der nicht wahrhaben wollte, daß er “von Deutschland” (“I stand with Deutschland“) verstoßen worden war – und ausgerechnet in der Person des hochrangigen Nazis Leopold von Mildenstein, der Adolf Eichmann zu dessen höchst unrühmlicher Karriere verholfen hatte, schien er – völlig bizarr! – den Beweis dafür erkannt zu haben, daß “nicht alle Deutschen” zwischen Juli 1941 – als die “Endlösung” angedacht worden war und mit der Wannseekonferenz im Januar 1942 beschlossene Sache wurde – und 1945 völlig verkommene Subjekte gewesen sind. Das ist eine völlig verrückte Geschichte, die mich mit offenem Mund zurückgelassen hat, als ich mir den Film “Die Wohnung” angesehen hatte.

Israel im Oktober/November 2023

Es stellt sich die Frage, als was man Israel eigentlich begreifen soll. Auf der Spitze des Herzlbergs in Jerusalem liegt ein Nationalfriedhof. Der politische Zionismus ist zugleich ein jüdischer. Aber ist der Staat Israel deswegen schon ein Staat für die Juden? Oder ist er eher einer von Zionisten für Zionisten und nachrangig einer für Juden? Wie ist da die Gewichtung? Müsste man überhaupt eine vornehmen? Es gibt Videos aus Israel, bei denen man Polizei und deren Umgang mit orthodoxen Juden sehen kann. Man staunt. Herzlich und brüderlich ist dieser Umgang oft nicht. Ich selbst habe in der Gedenkstätte Auschwitz in zwei oder drei verschiedenen Jahren, jeweils im Frühjahr, israelische Abschlußklassen auf Europareise erlebt, deren Benehmen ich nicht einordnen konnte. Sie johlten, sprangen herum und sangen, als ob sie die Stätte eines Sieges besuchten. Dabei schwenkten sie die israelische Flagge. Nicht eine, sondern dutzende. Das ist ungefähr zwanzig Jahre her. Seither schwebt ein Fragezeichen über meinem Kopf, was den “jüdischen Staat” Israel angeht.

Inzwischen stellen sich immer mehr Leute auch die Frage, wie es zu etlichen Filmdokumenten kommen konnte, die am 7. Oktober entstanden sind. Sie stammen von Fotoreportern der Associated Press, Reuters, CNN und der “New York Times” (NYT) und sind insofern merkwürdig, als daß die Terroristen aus dem Gazastreifen beispielsweise dabei zu sehen sind, wie sie (noch) quicklebendig am frühen Morgen des 7. Oktober – völlig überraschend! – einen Kibbuz stürmen. Nachdem – völlig überraschend! – das “beste Sicherheitskonzept der Welt” versagt hatte. Der 7. Oktober war ein Samstag. Wie in aller Welt kommt es, daß an einem Samstag in der Früh zwischen 7 und 8 Uhr Fotoreporter von AP, Reuters, CNN und der NYT – völlig zufällig! – direkt vor Ort sind, um den bestialischen Überfall zu filmen? Waren sie etwa von der Hamas vorab informiert worden? Wenn nicht, von wem dann? Zweifellos ist die Hamas eine palästinenesische Terrororganisation aus dem Gazastreifen, angeblich die “Regierung” der dortigen Palästinenser. Weil sie vor 13 Jahren einmal gewählt wurde und seither nie wieder. So palästinensisch die Hamas und ihre Kassam-Brigaden auch sind: Sind sie auch pro-palästinesisch? Oder ist die Fatah im Westjordanland pro-palästinensisch? Fatah und Hamas sind sich spinnefeind. Was ist dran an der Behauptung eines der Überlebenden einer Geiselnahme, daß die IDF von 8 Geiselnehmern und 20 Geiseln insgesamt 26 Personen erschossen, eine weitere verletzt habe und er als Einziger unverletzt geblieben sei?

Kein wundersames Bekenntnis

Die “Haaretz”, drittgrößte Zeitung Israels seit 1919, hatte das gebracht. Was war mit den 40 geköpften Babies? Ihre Namen finden sich nirgends und es war auch noch kein Großvater und keine Großmutter zu sehen, die sich zum Tod der Babies geäußert hätten. Was ist mit den Autos, die mitsamt ihren Insassen unterschiedslos zu Holzkohle verschmolzen sind, nachdem sie von Apache-Hubschraubern beschossen worden waren, mutmaßlich mit “Hellfire“-Missiles? Vom Hubschrauber aus konnte unmöglich festgestellt werden, wer in diesen Autos sitzt. Räumt die IDF im Gazastreifen der Befreiung von Geiseln Priorität ein? – Nein, ein “I stand with Israel” ist angesichts aller dieser Fragen einfach lächerlich. Wundern muß man sich über eine solches Bekenntnis im hypermoralistischen “Haltungsdeutschland” aber nicht.

Übrigens: Bei der britischen BBC war Netanyahu zu sehen, wie er erklärte, Hitler habe die Juden gar nicht umbringen, sondern nur ausweisen wollen. Daß er sie verbrennen müsse (“Holocaust“), dazu habe ihn “ein Moslem” überredet – und zwar mit der Begründung, daß sie alle nach Palästina kommen würden, wenn sie lediglich ausgewiesen werden würden. Sollte Netanyahu auf den Besuch von al-Husseini, dem Mufti von Jerusalem, bei Hitler in Berlin im Dezember 1941 angespielt haben: Da war der Holocaust bereits beschlossene Sache, lediglich das Wie war noch nicht ganz geklärt. Einen Monat später war auch das “geregelt”. Eichmann wurde eine Schlüsselfigur, ins “Judenreferat” geholt von Leopold von Mildenstein, dem Topnazi, dessen jahrelanger Freund bis lange nach dem Krieg der Zionist Kurt Tuchler aus Tel Aviv gewesen war. Der Zionist mit dem Heimweh. “Eretz Israel” ist noch lange nicht wiederhergestellt. Ich ahne Furchtbares. Noch viel furchtbarer als das, was bisher bekannt geworden ist.