„Das wird sich noch rächen“

Russland bekriegt weiter die Ukraine, im Nahen Osten hat die Hamas Terror nach Israel gebracht. Ist Deutschland auf solche Krisen gut vorbereitet? Experte Carlo Masala zweifelt.

Die Schocks werden zahlreicher: Russland bekriegt weiter die Ukraine, im Nahen Osten greift die Terrororganisation Hamas Israel an. Nun wird der Einmarsch der israelischen Armee in den Gazastreifen erwartet. Deutschland allerdings habe keine langfristige Strategie, um mit aktuellen und zukünftigen Krisen und Herausforderungen umzugehen. Das sagt mit Carlo Masala einer der führenden Sicherheitsexperten. Im Interview erklärt Masala, was nun zu tun wäre.

t-online: Professor Masala, die alte liberale Weltordnung schwindet, die Zahl der gewaltsamen Konflikte steigt. Die Stärkung der Bundeswehr geht Deutschland aber mit Gelassenheit an. Wie kann das sein?

Carlo Masala: Deutschland denkt seit 1990 nicht in geo- und sicherheitspolitischen Kategorien – diese Fähigkeit haben wir verlernt. Im Gegensatz zu Briten oder Franzosen. Es bestand so gerade eben Konsens, dass wir eine Bundeswehr benötigen. Auch, weil diese Notwendigkeit im Grundgesetz verankert ist. Aber wozu diese Armee dienen soll und in welchem Rahmen? Etwa im Rahmen der Friedensstiftung oder kollektiver Sicherheit? Da herrschte eher Fehlanzeige.

Wladimir Putin hat uns dann allerdings am 24. Februar 2022 mit dem Überfall auf die Ukraine demonstriert, wie wichtig die Fähigkeit zur Abschreckung ist.

Das hat Putin gründlich getan, ja. Nun hat ein Prozess begonnen, der langwierig und alles andere als gradlinig ist. Soldaten, Panzer, Luftwaffe, auf dem Papier waren die Ukrainer Russland am 24. Februar 2022 klar unterlegen, sie haben dies aber durch eine bemerkenswerte Moral wieder wettgemacht. Russlands Attacke traf damals eine Gesellschaft, die abwehrbereit gewesen ist. Da hat Putin eine Überraschung erlebt.

In Ihrem neuen Buch „Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende“ deklinieren Sie an einer Stelle das irreale Szenario durch, dass Russland Deutschland direkt angreifen würde. Was hätten wir dem entgegenzusetzen?

Wir könnten Russland nicht allzu viel entgegenwerfen. Meine Vermutung ist, dass die Bundeswehr einen Zeitraum zwischen drei Tagen und rund zweieinhalb Wochen durchhalten würde.

Carlo Masala, Jahrgang 1968, lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. Der Politikwissenschaftler diskutiert regelmäßig im Podcast „Sicherheitshalber“ über Sicherheitspolitik. Gerade ist Masalas neues Buch „Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende“ erschienen.

Dann würde die bisherige Munition auch bereits knapp.

So ist es. Während des Kalten Krieges hielt die Bundesrepublik Munition für 30 Tage vor, wie es die Nato-Vorgaben verlangt haben. Heute sind es drei. Aber das ändert sich gerade, die Bestellungen sind ja raus. Wobei es noch eine lange Zeit dauern wird, bis die Versäumnisse der Vergangenheit behoben sein werden.

Welche wären das, von der Munition abgesehen?

Wir müssen mehrere Faktoren unterscheiden. In Deutschland kann ich keine Resilienz, Zähigkeit und Abwehrbereitschaft innerhalb der Gesellschaft ausmachen, wie es in der Ukraine der Fall ist. Überraschend ist das selbstverständlich nicht, nach der langen Ära des Friedens, die wir genießen durften. Es braucht nun einfach Zeit, bis die Bedrohungslage zu einer veränderten Einstellung innerhalb der Gesellschaft führt.

Haben wir diese Zeit?

Die Zahl der Krisen wird nicht geringer. Zeit ist ein Luxus, den wir möglicherweise nicht haben.

Damit wären wir bei den anderen Faktoren. Bundeskanzler Olaf Scholz hat die „Zeitenwende“ im vergangenen Februar ausgerufen, sie verläuft aber eher schleppend. Woran liegt das? Und müsste die Politik den Bürgerinnen und Bürgern nicht klarmachen, dass die eher friedlichen Zeiten dem Ende zugegangen sind?

Deutschland hat einfach nicht in den Krisenmodus geschaltet, sondern befindet sich nach wie vor im Friedensmodus. Obwohl die Zeichen eher auf Sturm stehen, macht man einfach weiter wie gehabt. Wolfgang Schmidt, Chef des Bundeskanzleramts, hat einmal sinngemäß geäußert, dass nach dem Rückzug der Russen aus Kiew der notwendige Druck einfach weg gewesen wäre.

Carlo Masala: Der Politologe ist einer der führenden Experten für Sicherheitspolitik in Deutschland.

Gesetzt den Fall, dass Russland Kiew aber eingenommen hätte: Was wäre dann geschehen?

Dann wäre mächtig Druck entstanden. Der Fall Kiews hätte eine massive Bedrohung der baltischen Republiken bedeutet, die Mitglieder der Nato sind. Da dies aber nicht geschehen ist, fangen wir jetzt – fast zwei Jahre nach dem russischen Überfall auf die Ukraine – damit an, Munition zu bekommen.

Alfons Mais, der Inspekteur des Heeres, hatte am 24. Februar 2022 den Hilferuf verkündet, dass die Truppe „mehr oder weniger blank“ dastehe.

Ich habe Mais‘ Worte so verstanden, dass Deutschland an diesem 24. Februar 2022 nichts in der Hinterhand hatte, um den Ukrainern schnell helfen zu können. Sein Hilferuf ist allerdings erhört worden und besteht in dem 100 Milliarden Euro umfassenden Sondervermögen. Das wird nun nach und nach ausgegeben. Die Probleme bleiben allerdings die alten.

Wie meinen Sie das?

Wir haben „Zeitenwende“ und Sondervermögen, gut. Aber diese 100 Milliarden Euro werden halt mittels des alten, teils dysfunktionalen Systems ausgegeben, das man über die zurückliegenden 40 Jahre kreiert hat. Es ist überaus ineffektiv. Eine grundlegende Bundeswehrreform ist noch nicht in Sicht, deswegen haben wir die bekannten Probleme.

Wie bei den neuen Funkgeräten für die Bundeswehr, die sich nicht ohne Weiteres einbauen lassen?

Das ist das neueste Beispiel in einer langen Reihe. Durch Christine Lambrecht als Verteidigungsministerin haben wir fast ein Jahr verloren, ihr Nachfolger Boris Pistorius kann auch nicht von einem Tag auf den anderen ändern, was in 40 Jahren an Missständen aufgebaut wurde.

Wie bewerten Sie Pistorius‘ bisherige Amtszeit?

Pistorius ist fulminant eingestiegen – und hat im Prinzip zunächst alles richtig gemacht. Aber jetzt befindet er sich am Scheideweg, denn allmählich wird Pistorius an Ergebnissen gemessen. Und die muss er erst mal produzieren: mit und gegen das alte System, das er schon ein wenig reformiert hat, aber noch lange nicht genug.

Wenn aber der Schock des russischen Krieges gegen die Ukraine nicht ausgereicht hat, um in Deutschland Reformen anzustoßen, was dann? Abgesehen vom jüngsten Krisenereignis im Nahen Osten?

Genau darin liegt das Anliegen meines Buches: Es ist ein Plädoyer für die baldige Herstellung von Strukturen, mit denen wir auf Krise und Krieg reagieren können. Schnell, effektiv und vor allem langfristig. Eigentlich haben wir bislang recht gut auf Krisen reagiert, aber stets in einem kleineren Zeitrahmen. Das muss sich dringend ändern, denn sonst zahlen wir einen Preis.


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