Kriegsgefangene zwischen zwei Welten

Im wichtigsten Gefangenenlager zeigen die Ukrainer, dass sie ihre Feinde menschenwürdig behandeln. Trostlos ist die Lage der Russen trotzdem, die Heimkehr ersehnen und fürchten sie.

Durch eine schwere Eisentür betreten die russischen Kriegsgefangenen den Hof. Sie stellen sich in Viererreihen auf, die Gesichter ausdruckslos, die Augen auf den Boden gerichtet, die blauen Käppis tief in die Stirn gezogen. So entgehen sie den neugierigen Blicken der anwesenden Journalisten. Deren Kameras klicken nur wenige Meter entfernt.

Als der letzte der 43 kahlrasierten Männer in Sträflingskleidung bereitsteht, fällt die Tür ins Schloss. Das Funkgerät des Wärters knackt, und er gibt den Befehl zum Abmarsch in die Kantine. Dort wartet das Mittagessen: selbstgebackenes Brot, Vinaigrette-Salat mit Öl, klare Suppe mit Kartoffeln und Griess, Buchweizen-Kascha und Kompott zum Dessert. Die gefangenen Soldaten löffeln ihr blitzblankes Metall-Geschirr rasch und grösstenteils schweigend aus. Am Ende steht jede Tischgruppe auf und skandiert: «Danke fürs Mittagessen!»

240 Franken pro Häftling

Der militärische Drill und der karge Alltag kommen nicht von ungefähr: In diesem Lager in einem westukrainischen Ort, der aus Sicherheitsgründen geheim bleiben muss, halten die Ukrainer ihre gefangenen Feinde fest. Dies geschieht unter menschenwürdigen Bedingungen, aber auch nicht mehr. Eröffnet im April 2022, gilt es zwar als Vorzeige-Institution, die sich an das humanitäre Völkerrecht hält, ohne Gefängniszellen und mit Möglichkeiten zur körperlichen und geistigen Beschäftigung. Doch hohe Mauern mit Stacheldraht und omnipräsente Wärter lassen keinen Zweifel daran, wer Herr im Haus ist.

In Reih und Glied fassen die russischen Kriegsgefangenen ihr Mittagessen.
Gekocht haben es ihre Kameraden. Es gibt Olivier-Salat, Grütze, Suppe und selbstgebackenes Brot.

Umgerechnet 240 Franken geben die Ukrainer für die Unterbringung jedes Einzelnen pro Monat aus – eine vergleichsweise hohe Summe, die angesichts der vielen drängenden Prioritäten im Krieg regelmässig für innenpolitische Querelen sorgt. Das reicht für einen Schlafplatz, fürs Essen und für die medizinische sowie die psychologische Betreuung. Zur Einrichtung gehören auch ein geräumiger Fernsehraum mit Bibliothek und eine Kirche.

Sofern sie dazu physisch und psychisch in der Lage sind, arbeiten die Männer: Sie kleben Säcke, kochen oder stellen Möbel her. Dafür können sie sich ein monatliches Taschengeld von maximal zehn Franken verdienen. Ausgeben können es die Gefangenen im lagereigenen Geschäft, für drei Pack Zigaretten, für Kekse oder alkoholfreie Getränke. Zwei- bis dreimal pro Monat dürfen sie mit Angehörigen telefonieren. Diese können aus der Heimat zusätzlich Geld und Pakete schicken.

Die Bedingungen im wichtigsten Lager für russische Kriegsgefangene sind karg, doch immerhin menschenwürdig.
Die Einrichtung ist schmucklos und trist, bietet aber Möglichkeiten zur körperlichen und geistigen Betätigung.

«Natürlich wollen wir der Welt zeigen, dass wir die Häftlinge anständig behandeln, weil Russland genau das nicht tut», erklärt Petro Jazenko, der Presseoffizier der Gefängnisbehörde. Das Lager sei das wichtigste in der Ukraine. Die Zahl der Kriegsgefangenen halten die Behörden geheim. Im Land existieren laut dem Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) dreissig weitere Einrichtungen.

Die Unterschiede beim Zugang

Nicht überall herrschen so gute Bedingungen. Das OHCHR hat 25 Fälle von Erschiessungen direkt auf dem Schlachtfeld dokumentiert. Ausserdem misshandelten Ukrainer in Gefängnissen an der Front und im Transit russische Gefangene durch Schläge und die Androhung sexueller Gewalt. In Charkiw oder auch Kiew werden Kriegsgefangene mit normalen Kriminellen untergebracht, was gemäss Völkerrecht illegal ist. Petro Jazenko bestreitet dies nicht, erklärt es aber mit den schwierigen Bedingungen im Krieg.

Das Lager gilt als Vorzeige-Institution, internationale Organisationen inspizieren es regelmässig.
Zwar gibt es keine Gefängniszellen, doch die Russen werden innerhalb von hohen Mauern mit Stacheldraht festgehalten.

Dennoch unterscheidet sich Kiew in der Behandlung der Gefangenen fundamental von Moskau: Die Ukrainer lassen internationale Organisationen alle Einrichtungen inspizieren. Russland hingegen gewährt nur dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz einen sehr beschränkten Zugang zu den 48 inoffiziellen Lagern. Das IKRK sagt öffentlich nichts zu den Haftbedingungen, um diesen Zugang nicht zu verlieren.

Das OHCHR stellt auf Grundlage von Interviews mit ehemaligen ukrainischen Gefangenen aber systematische Gewalt und Folter in russischen Lagern fest. Zudem behandelt Moskau viele Zivilisten, die Widerstand gegen Besatzer leisten, als Kriegsgefangene. Bei einem Feuer im Lager Oleniwka kamen vor einem Jahr mehr als 50 ukrainische Soldaten ums Leben. Die Ursache bleibt unbekannt, da Russland keine unabhängige Untersuchung zulässt.

In der Westukraine müssen die Kriegsgefangenen nicht um ihr Leben fürchten. Dennoch sind die Umstände der Pressereise problematisch, da die Russen gemäss Artikel 13 der Genfer Konvention über Kriegsgefangene vor «öffentlicher Neugier» geschützt werden müssen. Indem die Ukrainer dennoch ausgewählte Medien zulassen, bewegen sie sich auf einem schmalen Grat zwischen Transparenz und Voyeurismus.

Es herrscht militärischer Drill, doch die Bedingungen sind besser als in anderen ukrainischen Einrichtungen – von den russischen Folterlagern ganz zu schweigen.
Die Ukrainer lassen ausgewählte Medienvertreter ins Lager und zeigen diesen die russischen Gefangenen; es ist eine Gratwanderung zwischen Transparenz und Voyeurismus.

«Wir limitieren den Zugang stark, damit das kein Disneyland wird», meint Jazenko zwar. Ausserdem müsse kein Gefangener mit der Presse reden, wenn er nicht wolle. Die Verantwortung für die Berichterstattung überlässt er aber den Journalisten. Um die Gefangenen zu schützen, verzichtet die NZZ deshalb auf die Nennung ihrer vollen Namen und von Details über ihre Herkunft. Es werden in der vorliegenden Reportage auch keine Gesichter gezeigt.

Die Wut der Ukrainerinnen

Die staatlichen ukrainischen Fernsehteams halten wenig vom Gebot, Kriegsgefangene nicht öffentlich vorzuführen. Angetrieben vom Bestreben, sich gegenüber dem Publikum patriotisch zu zeigen, verhören Moderatorinnen die Russen, die Kameras stets direkt auf sie gerichtet. «Wieso seid ihr hierhergekommen? Wie konntet ihr so einer verbrecherischen Armee beitreten? Wieso tötet ihr unsere Zivilisten?», schleudern sie den Gefangenen entgegen und halten ihnen Handybilder von russischen Kriegsverbrechen ins Gesicht.

Am Eingang geben die gefangenen Soldaten ihre persönlichen Gegenstände ab und erhalten die blaue Häftlingskleidung.
Sie erhalten Instruktionen über den Lageralltag und werden über ihre Rechte aufgeklärt. Die meisten arbeiten und verdienen sich so ein wenig Geld.

Für die anderen Journalisten schafft dieser aggressive Ansatz eine widersprüchliche Stimmung: Manche Kriegsgefangene wollen nun gar nicht mehr reden, ein Mann schleudert uns gar ein «Yankee, go home!» entgegen. Andere reagieren positiv auf unseren unaufgeregten Interviewstil.

Ob die Soldaten die Wahrheit über ihre Beweggründe und Haftbedingungen sagen, lässt sich nur teilweise überprüfen. Auch wenn bei den Gesprächen keine Wärter präsent sind, gibt es in den langen Gängen des Lagers viele Ohren. Es herrscht Misstrauen, auch untereinander: Schliesslich ist niemand vor Denunziationen nach einer Rückkehr in die Heimat sicher. Zurückkehrende Kriegsgefangene standen in Russlands Geschichte oft unter Generalverdacht, heute ist dies kaum anders.

Eine griechisch-katholische – keine orthodoxe – Kirche steht den Gläubigen zur Verfügung. Muslime haben ebenfalls einen Ort für ihr Gebet.
Im Fernsehraum liegen auch Hefte. Darin haben Kriegsgefangene Gedichte geschrieben, die meisten mit religiösem Inhalt.

Keiner unserer Gesprächspartner greift zu Überhöhungen oder Heroisierungen. «Sie behandeln mich anständig», findet ein Russe. «Aber ich bin trotzdem ein Kriegsgefangener.» Die Aussage ist bezeichnend für den Fatalismus, der die zuweilen ins Depressive tendierende Stimmung im Lager prägt.

Der Reiz des Geldes

Fast alle Befragten haben sich nach Beginn der «Spezialoperation» freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Als Motivation geben sie nicht Patriotismus, sondern finanzielle Interessen an: In der Armee verdienten sie deutlich mehr als im zivilen Leben. Eine Ausnahme bildet ein Mann namens Ilja. «Mir war der Krieg völlig egal, ich lebte mein Leben», erzählt der 28-Jährige. Doch dann hätten ihn die Militärbehörden überfallartig an seinem Arbeitsplatz in einem edlen Supermarkt zwangsrekrutiert – zusammen mit zehn Kollegen.

Dass sein Sold mit umgerechnet 2000 Franken dreimal so hoch gewesen wäre wie sein Lohn, nützte ihm wenig. Der scheue junge Mann ohne jegliche militärische Erfahrung ist noch immer fassungslos, dass er nach einem knappen Monat Schnellbleiche an der Front bei Bachmut landete. «Ich sass in einem Loch, und wir sollten uns mit Granaten und Maschinenpistolen gegen Panzer verteidigen.» Als die Ukrainer seine Position gestürmt hätten, habe er sich widerstandslos ergeben.

Ein Verwundeter, der sich auf der Krankenstation erholt, liest ein Buch aus der Bibliothek.
Auch hier überwachen die Wärter die Kriegsgefangenen streng.

Das Eingeständnis bringt Ilja in Russland in eine stigmatisierte Grauzone. Wer sich freiwillig ergibt oder desertiert, muss mit 10 bis 15 Jahren Gefängnis rechnen. Die Ukrainer erfassen diese Kategorien von Kriegsgefangenen deshalb nicht separat. Offiziell wurden alle während Kampfhandlungen gefasst.

Ob dies die Behörden in Russland überzeugt, bleibt zweifelhaft: Ein Soldat, den wir während eines Telefongesprächs mit seiner Familie beobachten können, muss sich jedenfalls gleichzeitig gegen eine ukrainische und eine russische Strafverfolgung wehren. «Im Dorf nennen sie dich einen Verräter», eröffnet ihm seine Mutter. Gleichzeitig drohen ihm wegen mutmasslicher Teilnahme an Kriegsverbrechen in der Ukraine bis zu zehn Jahre Haft.

In einem speziellen Büro dürfen Kriegsgefangene mit ihren Familien reden. Dieser Soldat erzählt der Mutter von seinen Problemen mit der Justiz in der Ukraine und in Russland.
Im Lager herrscht eine fatalistische Stimmung, die zuweilen ins Depressive abgleitet.

Die Scham des Berufssoldaten

Ihre moralische und rechtliche Verantwortung im Angriffskrieg reflektieren die Kriegsgefangenen kaum. Sie stellen sich als praktisch willenlose Instrumente dar, die nur Befehle ausgeführt hätten. Sie ergehen sich aber auch nicht in Selbstmitleid, sondern nehmen ihre Lage schicksalsergeben hin.

In der Krankenstation treffen wir den Russen Dima. Er erzählt emotionslos, wie eine ukrainische Granate im Donbass seinen Arm fast zerfetzte, als sei dies eine völlig gewöhnliche Alltagserfahrung. Dass ihn der Feind durch eine rasche Operation vor der Amputation bewahrte, scheint er als ebenso selbstverständlich zu betrachten. Zehn Minuten davor hatte er noch erläutert, dass er sich freiwillig gemeldet habe, weil die Volksrepubliken Luhansk und Donezk um Hilfe gegen die «Nazis» in Kiew gerufen hätten. Auf die Frage, ob das nicht etwas widersprüchlich sei, weicht er aus: «Politik interessiert mich nicht.»

Auch der Maschinengewehr-Schütze Alexander wurde bei seiner Gefangennahme im Gebiet Charkiw schwer verwundet. Ein Dutzend Mann waren in seiner Einheit, vier von ihnen kamen beim ukrainischen Beschuss ihres Fahrzeugs im letzten Herbst um. Er selbst trägt bis heute Schrapnellkugeln in der Wirbelsäule. Nun klebt der erfahrene 36-jährige Berufssoldat im Lager Papiersäcke zusammen. «Ich schäme mich dafür, dass sie mich gefangen nahmen. Das hätte nie passieren dürfen», entfährt es ihm.

Beim Kleben von Säcken gesteht ein Berufsmilitär, dass er sich für seine Gefangennahme schäme.
In Russlands Geschichte begegnete man heimgekehrten Kriegsgefangenen oft mit Misstrauen, sie wurden stigmatisiert.

Die Invasion hat auch Alexander nie hinterfragt, und sein grösster Wunsch ist die Rückkehr in die Armee. «Ich liebe meinen Beruf», gesteht er unverblümt. «Und ich hoffe, ich werde bald gegen ukrainische Gefangene ausgetauscht.» Er hat allerdings erlebt, welche Unsicherheit damit verbunden ist: «Zweimal stand ich auf der Liste für einen Gefangenenaustausch», erzählt er, während er Leim auf ein Stück Papier streicht, um so den Griff für eine Tasche herzustellen. «Zweimal fiel er im letzten Moment ins Wasser.»

Der Tauschwert der Gefangenen

Ein Austausch ist das, worauf hier im Lager alle warten. Anfang Juni teilte Präsident Selenski mit, dass so bisher 2500 Ukrainer in die Heimat zurückgekehrt seien. Auf russischer Seite dürften es ähnlich viele sein. Die Verhandlungen darüber sind stets komplex und sind eigenen Gesetzen unterworfen.

Ein Behördenvertreter vergleicht es mit einem Basar: Beide Parteien versuchten, einander stets im Ungewissen zu lassen über den Wert, den sie ihren eigenen Leuten zumessen würden, um so mehr herauszuschlagen. Helden sind kostbarer als Feiglinge und Deserteure. Mit den Wagner-Paramilitärs und den tschetschenischen Sondereinheiten verhandeln die Ukrainer separat.

Dennoch können sich die russischen Kriegsgefangenen in der Westukraine gute Chancen ausrechnen, in absehbarer Zeit freizukommen: Moskaus Vormarsch in den ersten Kriegstagen, vor allem aber die Einkreisung und Gefangennahme mehrerer tausend Asowstal-Verteidiger in Mariupol, bedeutet aber, dass die Russen über ein deutlich grösseres Faustpfand verfügen.

Ob die Behauptung Kiews stimmt, man habe im Rahmen der Gegenoffensive seit Juni viele neue Gefangene gemacht, lässt sich nicht überprüfen. In der perversen Logik des Krieges wären sie fast die einzige Hoffnung für die Tausende von Ukrainern, deren Schicksal seit über einem Jahr grösstenteils ungewiss ist.

Alle Insassen scheinen auf eine Rückkehr im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zu hoffen. Ihre Chancen stehen gut.