Eine der bekanntesten Strafverteidigerinnen wird im Mega-Prozess gegen die Drogenmafia verhaftet. Sie soll Nachrichten des Hauptverdächtigen durchgeschleust haben. Wer Weski ist – und warum der Fall den Rechtsstaat aufs Neue herausfordert.
Wenn im Gewerbegebiet Osdorp am Stadtrand von Amsterdam Verhandlungstag ist, dann sind die Straßen gesperrt, bewacht von Polizisten, die aussehen wie Soldaten, mit Helmen, Sturmmasken, schwer bewaffnet mit Maschinenpistolen. Das zweistöckige Bürogebäude sieht von außen schmucklos aus, drinnen hinter einer Schleuse beherbergt es das Hochsicherheitsgericht der Niederlande, genannt „der Bunker“.
Seit dem Frühjahr 2021 führt die Staatsanwaltschaft hier einen Mega-Drogenprozess. Auf der Anklagebank sitzt die mutmaßliche Führungsriege, sozusagen die niederländische Niederlassung der global organisierten Kokain-Mafia. Es geht um hunderte Tonnen Kokain im Wert von mehreren Milliarden Euro, Geldwäsche, Auftragsmorde und Attentate, die sich gegen den niederländischen Staat richten. Ermittler sprechen mittlerweile von einem neuen Terrorismus, Aufnahmen in den niederländischen Nachrichtensendungen erinnern bisweilen an Szenen aus der Netflix-Serie Narcos.
Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten in Osdorp vor, eine „gut geölte Mordmaschine“ betrieben zu haben. An deren Spitze sieht die Staatsanwaltschaft einen Mann, den die Niederlande lange Zeit als Staatsfeind Nummer eins verfolgt hat, bis sie ihn 2019 in Dubai festnehmen lassen konnte: den 44-jährigen niederländisch-marokkanischen Drogenboss Ridouan Taghi. Von ihm soll das Credo stammen: „Wie praat, die gaat“, niederländisch für: Wer spricht, stirbt.
Unbequeme Anwältin, Patti-Smith-Fan, Porschefahrerin
Verteidigt wird er von Inez Weski, einer der Top-Strafverteidigerinnen in den Niederlanden. Eine Anwältin, deren Name Gewicht hat. Sie verteidigt seit 45 Jahren, am liebsten in Verfahren der Superlative: Waffenschmuggel, Kriegsverbrechen, internationaler Drogenhandel. Dass die 68-Jährige frühzeitig die Verteidigerin des High-Profile-Angeklagten Taghi wurde, überraschte niemanden. Das Verfahren in Osdorp ist der wahrscheinlich bedeutendste Kriminalprozess der letzten Jahrzehnte in den Niederlanden. Und Weski war in der ersten Reihe dabei.
Wenn die Anwältin Inez Weski in Osdorp eintraf, konnte man das nicht verpassen. Stets ganz in schwarz gekleidet, kohlschwarz geschminkte Augen, ein Ring mit einem Totenkopf am Finger. Ein Auftritt, der Widerstand ausstrahlt. Wenn Journalisten sie am Getränkeautomaten vor dem Presseraum ansprachen, antwortete sie kühl und knapp, zu dem laufenden Fall sprechen wollte sie nur im Gerichtssaal. 2018 machte sie von sich reden, als sie ein knapp 200 Seiten langes Plädoyer verlas, es dauerte zwei Tage. Eine unbequeme Strafverteidigerin, die an Grenzen geht, diese aber – bislang zumindest – nicht übertrat.
Nicht nur Anwaltskollegen kennen sie so, auch sie selbst bezeichnet sich als „Workaholic“. Stundensatz laut einem Auftritt in dem niederländischem Medium VPRO: 400 Euro. Lieblingsmusik: Die US-„Godmother of Punk“ Patti Smith. Ihr Weg zur Arbeit: im schwarzen Porsche.
Wurde sie unter Druck gesetzt, hat die Staatsanwaltschaft überreagiert?
Am 21. April wurde die Anwältin von der Polizei verhaftet, ihr Haus und die Kanzlei in Rotterdam durchsucht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, selbst Teil der kriminellen Vereinigung geworden zu sein, deren mutmaßlichen Kopf sie verteidigt. Weski soll Nachrichten von und an Taghi, der in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzt, über ein verschlüsseltes Telefon heimlich durchgestochen – und damit ihre Stellung als Strafverteidigerin missbraucht haben. Weski hat das Mandat nach der Festnahme niedergelegt.
Die Verunsicherung in den Niederlanden ist groß, sind die Vorwürfe gegen sie doch ein weiteres Kapitel in einem Kampf gegen die Kokain-Mafia, in dem der Rechtsstaat zunehmend unter Druck gerät. Weskis Fall ist ein Rätsel. Hat sie sich auf die andere Seite geschlagen, wurde sie unter Druck gesetzt, oder hat die Staatsanwaltschaft überreagiert?
Eine Anwältin gegen den Rest der Welt?
2014 erschien ihr Buch mit dem Titel „Die Jagd nach dem Recht“ über ihre Arbeit und ihr Verständnis als Strafverteidigerin. Der Untertitel: „Über die Anwältin und den Rest der Welt“. Weski gegen den Rest der Welt. In ihrem Buch kritisiert sie, dass der Staat sich häufig mehr als „Raubtier“ statt als Beschützer verhält. Sie beklagte Missstände in Gefängnissen und bei der Polizei. Die Niederländer kennen sie von ihren Auftritten in TV-Runden, in denen sie sich regelmäßig kritisch gegenüber Autoritäten und Institutionen aussprach.
Beobachter weisen auf das angespannte Verhältnis von Weski und der Staatsanwaltschaft im Prozess gegen Taghi hin. „Sie hat sich immer vehement gegen den Staat, die Staatsanwaltschaft und die Sicherheitsdienste gewehrt“, erklärt der renommierte Kriminaljournalist Paul Vughts im Podcast mit seinem Kollegen Wouter Laumans von der niederländischen Zeitung Het Parool. Vughts weist auf Weski Rufs hin: Sie sei nicht nur als Kritikerin bekannt, sondern auch als „Criticaster“, jemand, der konstant alle und alles kritisiert. Vughts deutet an, dass ihre Verhaftung in Sicherheitskreisen offenbar euphorisch aufgenommen wurde.
Anwaltschaft zeigt sich schockiert
Kollegen aus der niederländischen Anwaltschaft reagierten schockiert auf die Verhaftung. Der Strafverteidiger Christian Flokstra, der in dem Großverfahren auch einen Angeklagten verteidigt, sagte in seinem Podcast: „Mir dreht sich der Magen um“. Er fordert, Weskis Verhaftung müsse eine echte Diskussion auslösen. „Dass Weski selbst auf der Anklagebank sitzen könnte, das kann ich mir einfach noch nicht vorstellen.“ Mit Blick auf den laufenden Prozess sagte Flokstra: „Wir können nicht überblicken, wie sich diese Verhaftung und die zugrunde liegenden Ermittlungen auf den Fall Marengo auswirken.“ Marengo ist der Code-Name der Justiz für den Mega-Prozess, ein computergeneriertes Wort.
Andere Anwaltskollegen halten die Verhaftung für unverhältnismäßig: “Ein Aushängeschild der Anwaltschaft in Isolation, wie weit können wir noch gehen?“ oder „Eine 68-jährige Frau mit gebrechlicher Gesundheit in völlige Isolation zu stecken. Schrecklich.“
Jedenfalls nicht völlig ohne Vorzeichen war Weski in das Visier der Staatsanwaltschaft gerückt, schon länger fiel ein Verdacht auf sie. Im Sommer 2022 wurde der Anwalt Youssef T. zu fünfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, er soll Nachrichten in und aus dem Hochsicherheitsgefängnis geschmuggelt haben, der Anwalt war der Neffe von Taghi. Schon damals tauchten Hinweise auf, dass es noch eine zweite Übermittlerin gegeben haben könnte.
Verdacht fiel schon früher auf Weski
Dass sich Weski ganz aus eigenen Stücken auf eine Zusammenarbeit mit Kriminellen einließ, scheint zumindest Stand jetzt schwer nachvollziehbar. Was hätte sie davon gehabt? Gerüchte halten sich, dass Weski zu ihrem eigenen Schutz in Haft genommen wurde.
Damit könnte eine weitere denkbare Erklärung zusammenhängen: Sie soll durch die Familie von Taghi unter Druck gesetzt worden sein, Nachrichten heimlich zu überbringen, das berichtet Het Parool. Laut RTL Nieuws soll die Polizei auch ermitteln, ob Weski Nachrichten zwischen Taghi und Raffaele Imperiale übermittelte. Imperiale gilt als Kopf der neapolitanischen Mafia Camorra, bis zu seiner Verhaftung 2021 soll er einer der einflussreichsten Kokainhändler Europas gewesen sein.
Besonders brisant an diesem Fall: Es geht um die Kommunikation zwischen der Verteidigerin und ihrem Mandanten, ein Kernbereich im strafprozessualen Vertrauensverhältnis, das im Verfassungsstaat besonders geschützt wird.
„In Anbetracht der besonderen Rolle, die ein Rechtsanwalt im Rechtsstaat im Allgemeinen und im Strafverfahren im Besonderen spielt, müssen diese Ermittlungen mit äußerster Sorgfalt durchgeführt werden, sagt Peter Hanenberg, Rechtsanwalt aus Rotterdam. „Unnötige Verletzungen der vertraulichen Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant sollten im Interesse der Verteidigung des Mandanten vermieden werden.“ Hanenberg ist Vorsitzender der Anwaltskammer Rotterdam, der Weski angehört – man muss sagen, angehörte. Denn mittlerweile hat die Kammer Weski freigestellt, sie könne aus der Haft heraus derzeit ihre Aufgabe als Rechtsanwältin nicht wahrnehmen. Die Kammer betont, dass es sich nicht um eine Sanktion handele, der Schritt könne auch wieder rückgängig gemacht werden. Aus dem vorsichtigen Statement der Kammer spricht auch Verunsicherung.
„Ein Tiefpunkt“ in einem Strafprozess, der den Rechtsstaat herausfordert
Weskis Verhaftung reiht sich ein in eine Entwicklung in den Niederlanden, die von Anfang durch den Mega-Drogenprozess Marengo befeuert wurde. Der Rechtsstaat wird herausgefordert und gerät bei diesen Dimensionen von Geld, Macht und Gewalt an seine Grenzen – indem er selbst versucht ist, seine Befugnisse maximal auszuschöpfen, rechtsstaatliche Eigensicherungen anzutasten. Und auf brutale Weise ist er herausgefordert, die Sicherheit in einem hochbrisanten Gerichtsverfahren zu gewährleisten.
Eine wichtige Quelle in dem Verfahren ist ein Kronzeuge, der selbst aus der marokkanisch-niederländisch Mafia stammt, aber 2017 die Seiten gewechselt hat. Die Jahre danach klingen wie aus einem Horrorfilm: 2018 wird sein Bruder in seinem Büro von einem Auftragskiller erschossen, 2019 wird sein Anwalt Derk Wiersum in einem Wohngebiet in Amsterdam erschossen, 2021 erschießt ein Killer den bekannten Kriminaljournalisten Peter R. de Vries in einer Fußgängerzone in Amsterdam, er war die Vertrauensperson des Kronzeugen geworden.
Wer will da Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt sein? Im besten Fall geht es auf Kosten eines Privatlebens, das durchgehend von Sicherheitstechnik und Personenschützern geprägt ist, im schlechtesten Fall geht es um das eigene Leben.
Die neuen Anwälte des Kronzeugen haben im März 2023 das Mandat niedergelegt. Weskis Haft wurde Anfang Mai um 30 Tage verlängert, die Vorwürfe scheinen jedenfalls nicht völlig aus der Luft gegriffen. Am Montag ging der Prozess zum ersten Mal ohne sie weiter. Der Hauptangeklagte Taghi will sich erst einmal selbst verteidigen. Ein Urteil in dem Prozess wird für Ende Oktober 2023 erwartet.
Der Prozess, den so viele furchtbare Rückschläge begleiten, gerät mit der Verhaftung Weskis nun noch einmal neu unter Druck. Der Kriminaljournalist Vughts sagt: „Das ist echt ein Tiefpunkt.“ Ein niederländischer Journalist, der nicht mit seinem Namen genannt werden wollte, sagte einmal hinter vorgehaltener Hand: Vielleicht hätte man Taghi nie zurück in die Niederlande bringen und lieber auf den Prozess verzichten sollen. Was für ein schauriger Gedanke in einem Rechtsstaat mitten in Europa.
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