Afghanistan

Teil 1: Das Leben in Afghanistan unter den Taliban

Ein Korrespondent des russischen Fernsehens hat kürzlich ganz Afghanistan bereist. Hier übersetze ich seine Reportagen aus einem Land, über das wir heute kaum etwas wissen.

von Anti-Spiegel

3. Juni 2024 06:00 Uhr

Ich habe vor einigen Tagen angekündigt, dass ich russische Reportagen über das Leben in Afghanistan unter den Taliban übersetzen werde. Ein Korrespondent hat kürzlich das ganze Land bereist und jeden Sonntag wurde im wöchentlichen Nachrichtenrückblick des russischen Fernsehens eine seiner Reportagen ausgestrahlt. Ich habe die Reportagen übersetzt und veröffentliche nun jeden Tag eine davon.

Im ersten Teil ging es mehr oder weniger über seine Ankunft in Afghanistan und seine ersten Eindrücke aus Kabul.

Beginn der Übersetzung:

Ein Blick aus dem Flugzeugfenster, Sekunden vor der Landung. Die Landebahn ist vereist, aber es gibt keinen Ersatzflugplatz. Alles geschieht durch Allahs Willen.

Afghan Airlines ist wie eine Zeitmaschine. Wir sind im Jahr 2024 in Moskau gestartet und im Jahr 1402 in Kabul gelandet. Schritt für Schritt geht das Land nach dem Willen des Propheten voran. Von Mekka nach Medina und mit jedem Neumond weiter.

Vor uns liegen drei Wochen Arbeit in verschiedenen Provinzen. Darunter einige, in denen europäische Kleidung nicht erwünscht ist. Wir wissen noch nicht, ob es mit unserer Reise nach Kandahar klappt, aber wir müssen uns darauf vorbereiten, indem wir einheimische Kleidung kaufen, die in einer Schneiderei genäht werden soll.

Diese Schneiderei ist die älteste in Kabul. Die Stoffe sind von hoher Qualität und kommen aus der ganzen Welt. Die Afghanen nähen einmal im Jahr einen solchen Anzug, einen Pyrantumbon, und tragen ihn, ohne ihn zu wechseln. Für die Einheimischen ist das sehr teuer.

Trotz allem ist der amerikanische und britische Einfluss spürbar, denn alle Größen sind in Zoll angegeben. Die vier Anzüge für unsere Gruppe sollen in wenigen Stunden geschneidert werden. Wir haben Zeit, um Frisur und Bart in Ordnung zu bringen.

Einer der ältesten und besten Friseursalons der Stadt wird von einer Familie, einem Vater und vier Söhnen, geführt. Körperpflege ist den Männern in Afghanistan sehr wichtig. Fast alle drei Tage gehen sie zum Friseur. Im Gegensatz zu den Frauen, die sich das nicht können, denn für sie sind seit einiger Zeit alle Friseursalons geschlossen. Als mich der Friseur fragte, wie die Haare geschnitten werden sollten, antwortete ich: nach seinem eigenen Ermessen. Am Ende kann ich sagen, dass es sehr saubere und gute Arbeit war.

Neben dem Friseursalon gibt es einen Juwelier, der eher an die Höhle von Ali Baba erinnert. Die bei chinesische Touristen beliebteste Größe ist etwa so groß wie dieser 12-Karat-Smaragd. Es gibt nur ein Problem: Wenn man gegen das Licht schaut, sieht man viele Risse. Das liegt daran, dass sie mit Sprengstoff abgebaut werden.

Der Laden in der berühmten Chicken Street bietet alles von mehrkarätigen Diamanten und Smaragden, die chinesische Touristen so gerne kaufen, bis hin zu Dingen, die direkt mit Afghanistan zu tun haben. Postkarten mit Ansichten, antike Gewehre und Messer oder Repliken antiker Gewehre und Messer. Beispielsweise ein klassisches afghanisches Messer mit umgekehrter Schneide.

Den Verkäufern zufolge werden solche Messer von den Henkern der Scharia-Gerichte benutzt, um Dieben die Gliedmaßen abzuschlagen. Beim ersten Mal wird eine Hand abgeschlagen, beim zweiten Mal ein Fuß. In der Regel werden die Täter nicht rückfällig. Der Wunsch, fremdes Eigentum zu stehlen, verschwindet völlig. Ist das Brutal? Sicher, aber hier funktioniert es.

Auf einem Bild ist eine Szene zu sehen, bei der Afghanische Mudschahedin in einer Bergschlucht einen sowjetischen Konvoi angreifen. Unsere Hubschrauber geben unseren Männern Deckung.

In Afghanistan findet man Geschichte in Form von Gegenständen und Artefakten buchstäblich an jeder Ecke. Aber dieser Helm ist schon seltsam! Kenner würden sagen, dass das ein Nazi-Helm ist, und sie hätten Recht. Die Deutschen hatten solche grauen Helme mit Hakenkreuzen, die Afghanen hatten grüne Helme. Sie wurden hier in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts eingesammelt, als die Abwehr der Nazis versuchte, hier Ordnung zu schaffen, was der sowjetische Geheimdienst vereitelt hat.

Es ist ein vergessenes Kapitel der Geschichte, dass die Deutschen vor fast hundert Jahren in Afghanistan stark engagiert waren. Sie verstärkten die Armee, lieferten Waffen und Uniformen. Daher die Nazi-Helme im Land. Die Deutschen planten für die Afghanen den Einmarsch in die Sowjetunion. Im Erfolgsfall versprachen sie die Abtretung mehrerer Gebiete in Zentralasien und der Wolgaregion.

Aus freigegebenen Dokumenten geht hervor, dass die Afghanen bereit waren, gegen die Sowjetunion in den Krieg zu ziehen. Allerdings hat der sowjetische Geheimdienst in der Gesellschaft eine antifaschistische Stimmung geschürt. Daraufhin wurden alle deutschen Agenten aus Afghanistan ausgewiesen und das Land erklärte im August 1941 seine Neutralität.

Für diesen Sieg haben unsere Diplomaten und Geheimdienstler ihr Leben geopfert. Die Gräber einiger von ihnen sind in Kabul. Und das ist der einzige Ort in Afghanistan, an dem es ein orthodoxes Kreuz gibt.

Es ist vor allem ein Ort der Erinnerung, denn hier sind sowjetische Diplomaten begraben, das ist ein russischer Friedhof. Die Taliban kennen diesen Ort und behandeln ihn trotz des orthodoxen Kreuzes mit Respekt. Die Namen der Unbekannten, die in den Gräbern liegen, sind bis heute nicht zu erfahren. Sie sind als geheim eingestuft und das Geheimnis soll erst 2044 gelüftet werden.

Auf einer kleinen, zum Himmel offenen Fläche sind auf den Wänden die Namen anderer Verteidiger der Interessen unseres Landes, sowjetischer Soldaten-Internationalisten, eingraviert. Der Verband der Helden Russlands hat mit Unterstützung von Mäzenen dafür gesorgt, dass niemand vergessen wird.

Oleg Gonsow, ein Veteran des Afghanistan-Krieges, der unsere Reise und unsere Sicherheit hier organisiert, erinnert sich: „Sogar Mudschahedin, die gegen uns gekämpft hatten, kommen hierher und schauen uns zu, wir sprechen mit ihnen. Sie sagen, die Russen seien ein ehrenwertes Volk. Nicht einmal wegen dem, was sie jetzt überdenken. Sie meinen es einfach so: Mit einem Russen kann man reden und als Kämpfer waren sie ehrlich und ehrenhaft. Sie hätten unsere Frauen und Alten nicht getötet, sagen sie. Diese Meinungen sind die Folge davon, dass sie hier auf Amerikaner und die NATO gestoßen sind. Und sie sagen noch, wir hätten nicht kämpfen sollen. Wir sollten Freunde sein, hierher kommen, aber ohne Waffen. Nun, sie haben Recht, denn sie werden hier niemanden mit Waffen dulden.“

Nuraga, Besitzer eines sogenannten „Dukan“-Ladens, lebt seit seiner Geburt in diesem Viertel. Er erzählt uns: „Ich bin 48 Jahre alt und all die Jahre war Krieg in Afghanistan. Wir können nicht ohne Krieg leben. Aber es gab nie ein Problem mit den Russen. Es gab Krieg, aber die russischen Soldaten haben ihn nicht angefangen, das verstehen wir. Und jetzt sind sie gekommen, haben den Friedhof restauriert, aufgeräumt, Ordnung geschaffen, Wasser hergeleitet. Es ist einfach besser für uns, dass die Russen gekommen sind. Und es ist gut, dass sie ihrer Soldaten gedenken. Sie haben ihren Glauben, wir haben unseren. Das stört uns überhaupt nicht.“

Diese Freundlichkeit ist nicht gespielt. Es macht keinen Sinn, dass Nuraga, der in dem muslimischen Land unter den Taliban lebt, sich bei uns einschmeichelt und uns anlügt. Die Afghanen behandeln Besucher aus Russland gut. Wirklich schlechte Erinnerungen haben sie an die Amerikaner.

Die Aufnahmen der schmachvollen Flucht aus Afghanistan sind in die Geschichte der verlorenen Schlachten der USA eingegangen. Die Taliban haben alle Stützpunkte ohne einen einzigen Schuss übernommen, die zurückgelassene Ausrüstung übernommen und die Uniformen in den „Dukan“-Läden im ganzen Land verkauft. Der Scheinriese wurde über Nacht in winzige Stücke zerschlagen.

Amerikanische Produkte – Uniformen, Stiefel, Munition -, die früher den Markt überschwemmten, gibt es heute kaum noch. Dennoch gibt es einzigartige Gegenstände, die nie verkauft werden. Zum Beispiel eine Evakuierungsleiter aus einem amerikanischen Hubschrauber.

Die Afghanen haben gewonnen, weil sie stark und geduldig sind. Jetzt atmen sie auf. Sie wissen noch nicht, wie sie ihr Leben weiterführen sollen, aber die beschämende Vergangenheit der Besatzung ist für immer vorbei.

So etwas kann man nur in Afghanistan sehen. Ein Kinderwagen in Tarnfarben für einen echten Mudschahedin, für einen echten Krieger. „Es ist schade, dass ich schon alt bin, ich bin 80 Jahre alt. Ich kann nur noch auf dem Markt arbeiten. Früher war ich Fahrer. Jetzt ist das Leben besser, es gibt keinen Krieg. Das Wichtigste ist, Arbeit zu haben“, sagt der Händler Jamil Razo.

Und Arbeit gibt es und die Privatwirtschaft boomt. Täglich werden Dutzende von Firmen und Einzelunternehmern registriert. Bei jedem Finanzamt stehen direkt an der Straße reihenweise Drucker und Kopierer. Der Kopierservice arbeitet bei jedem Wetter.

Said Farid betreibt ein Geschäft im Zentrum Kabuls. Russisch hat er in St. Petersburg gelernt, wo er zehn Jahre gelebt und gearbeitet hat. „Wie ist das Leben heute in Afghanistan?“, fragen wir ihn.

„Das Leben in Afghanistan ist jetzt sehr gut. Ich habe ein Geschäft.“

Immer wieder treffen wir Menschen, die zumindest ein paar Worte unserer Sprache beherrschen. Wenn sie Russisch hören, kommen sie auf uns zu und schütteln uns freundlich die Hand.

Zeit für das Abendessen. Die Küche sieht nicht sehr ästhetisch und erschreckend ungewohnt aus. Was die Franzosen Lamm-Confit nennen würden, ist hier einfach Lamm in heißem Fett. Aber an der Frische und Qualität der Produkte gibt es keinen Zweifel. Es ist unglaublich lecker.

Was ein Afghane verspricht, hält er auch. Wir sind wie verabredet zur Schließzeit in die Schneiderei gekommen und wurden nicht enttäuscht. Der Anzug ist fertig, gebügelt und eingepackt. Jetzt muss er nur noch anprobiert werden. Das Gefühl ist erstens ungewohnt, aber zweitens ist er sehr bequem, der Stoff ist von hoher Qualität, und das alles für 30 Euro.

Jetzt können wir unsere Reise durch das Land beginnen. Wir drehen noch ein bisschen in der Vielvölkerstadt Kabul, aber wir werden auch das rein paschtunische Kandahar, das an Pakistan grenzende Jalabad, das Gebiet der nomadischen Balutschenstämme und die unterirdische Grabstätte der afghanischen Königsfamilie besuchen. Und den gefährlichsten Ort der afghanischen Hauptstadt, den „schmutzigen Markt“, den kein Europäer betreten darf. Und wir wollen auch noch darüber berichten, wie die Taliban eines der schlimmsten Übel der Welt besiegt haben.

Ende der Übersetzung


Kommentare

2 Antworten zu „Afghanistan“

  1. Avatar von Tyche
    Tyche

    Aus Röpers Anti Spiegel.

    1. Sehr interessant,
      von alledem hatte ich keine Ahnung

      Das Vorurteil im Westen: Afghanen -> pööhse Drogen-Dealer

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