Reisner: „Ukraine wird von den Ereignissen überholt“

Russland macht massive Verluste im Donbass, doch Moskaus Streitkräfte kommen in ihrem Angriffskrieg Meter für Meter voran. Für die Ukraine ergibt sich dadurch eine prekäre Situation, wie Oberst Reisner gegenüber ntv.de ausführt. Kiews Strategie gehe nicht auf, auch weil der Westen sich wankelmütig zeige.

„Die Ukraine versucht, den Feind ins Herz zu treffen“

Ukrainische Soldaten feuern mit einer Haubitze auf den Gegner im Donbass.

Auf russischem Gelände im Raum Kursk fliegt eine Brücke in die Luft. Welchen Effekt hat ein solcher ukrainischer Angriff? Und wie lange lässt sich die Besetzung durchhalten? Oberst Reisner über die neue Taktik der Ukrainer und ihr Problem mit den wankelmütigen Partnern.

Seit Anfang August halten die Ukrainer ein Stück russisches Terrain in der Region Kursk besetzt. Ein Video zeigt nun, wie eine ukrainische Attacke dort eine Brücke über den Fluss Seym in die Luft jagt. Welchen Effekt hat das?

Diese Brücke war bereits eine Pontonbrücke, also ein militärisches Pionierbrückensystem, das eine zerstörte Brücke ersetzen soll. Mit Pontonbrücken kann man recht einfach eine Übersetzmöglichkeit für die Truppen bauen. Die ursprünglichen drei massiven Brücken über den Fluss hat die Ukraine bereits in den vergangenen Wochen zerstört. Die Russen schaffen es aber auch immer wieder, sie mit neuen Behelfsbrücken zu ersetzen.

Welche Rolle spielen diese Brücken für die Front?

Wenn wir mal im Detail draufschauen: Die Ukraine ist dort in Kursk auf russisches Territorium übergetreten. Der Einbruchsraum umfasst etwa 100 Kilometer in der Breite und rund 30 Kilometer in der Tiefe. Nun will die Armee weiter vorstoßen. Im Norden des Übertritts haben die Russen das Gelände aber schon abgeriegelt. Von Osten her ebenso. Bleibt der Westen. Westlich sind die Russen auch dabei, das Gebiet abzuriegeln, um einen Vorstoß zu blockieren. Aber hier ergibt sich ein günstiger Ansatz für Kiews Truppen. Denn wenn sie weiter nach Westen vorstoßen können, treffen sie nach einigen Kilometern wieder auf die ukrainische Grenze.

Dort können die Russen also nicht so einfach Gegenwehr leisten?

Nur von Norden aus, also in der Flanke. Und im Norden dieses Gebiets verläuft der Fluss Seym. Die Ukrainer wollen den Fluss als Flankenschutz und Verteidigungslinie nutzen, indem sie den Russen die Möglichkeit nehmen, ihn zu überqueren und damit weitere Kräfte heranzubringen. Wenn die Ukrainer das unterbinden könnten, wären sie in der Lage, gut gesichert nach Westen vorzustoßen und weitere Geländegewinne zu melden.

Das heißt, bislang klappt das noch nicht?

Die Russen schaffen es immer wieder, neue Brücken zu bauen und frische Kräfte auf die andere Seite zu bekommen. Die stehen dann den Ukrainern im Weg. Im Moment gibt es darum keine signifikanten Vorstöße von Seiten Kiews.

General Syrskyj, der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte hat vor einigen Tagen die Besetzung dieses Gebiets in Kursk zum Erfolg erklärt. Das würde die Kräfte im Donbass so mobilisieren, dass sie erfolgreicher kämpfen und die Gebiete dort halten. Klang etwas konstruiert, oder?

Der Generalstabschef muss jetzt darstellen, warum dieser Vorstoß bei Kursk sinnvoll war und ist. Ein Ziel des Angriffs war, dass die Russen Kräfte aus dem Donbass ins angegriffene Gebiet nach Kursk abziehen müssten. Das wurde nicht erreicht, und der MI6, der britische Geheimdienst, hält es derzeit für nicht absehbar, wie lange die Ukraine das Gebiet im Raum Kursk noch halten kann. Diese Besetzung russischen Territoriums ist aber ein Stachel im Fleisch der Russen. Syrskyj meldet, seit sechs Tagen hätten die im Donbass keine Vorstöße mehr Richtung Pokrowsk geschafft. Wenn die Ukrainer den russischen Boden noch länger besetzt halten, müssten die Russen vielleicht doch irgendwann Kräfte aus dem Donbass dorthin ziehen. Und damit sind wir schon im Donbass. Dort ist der Druck auf Pokrowsk weiter groß.

Dieser Ort ist ein wichtiger logistischer Knotenpunkt im Donbass. Vergangene Woche hatten Sie dort aber eine operative Pause festgestellt. Hält die noch an?

Das ist die gute Nachricht: Diese operative Pause manifestiert sich. Der Vorstoß der Russen hat nach vorn merklich nachgelassen, an den Flanken sind die Gefechte aber unverändert hart. Die ukrainischen Frontsoldaten melden von den Schwergewichtsräumen eine Überlegenheit des Feindes im Verhältnis 1 zu 10. In einigen Gebieten könnte es so weit kommen, dass ukrainische Kräfte eingekesselt werden, zum Beispiel bei Niu York und westlich von Pervomaiske. Möglicherweise hat die russische Sommeroffensive ihren Höhepunkt aber bereits erreicht und schafft es nicht mehr, Pokrowsk einzunehmen. Auch im Raum Charkiw kommt es fast zu einem Erliegen der Kämpfe. Die Ukraine führt zur Verteidigung laufend neue Reserven heran. Sie hat den Vorstoß der Russen hier und bei Pokrowsk vorerst erfolgreich abgeriegelt.

Aufgeklappt zeigt das Satellitenbild denselben Ausschnitt wie die Karte: Im Nordwesten Pokrowsk, östlich davon die Gebietsgewinne der Russen
Aufgeklappt zeigt das Satellitenbild denselben Ausschnitt wie die Karte: Im Nordwesten Pokrowsk, östlich davon die Gebietsgewinne der Russen (Foto: © Copernicus Sentinel Data 2024, Kartendaten © OSM-Mitwirkende, Frontverlauf: ntv.de Daten)

Hat denn die Ukraine noch so viele Reserven?

Die Ukraine hatte beschlossen, dieses Jahr in die Defensive zu gehen, damit sie 2025 wieder in die Offensive kommt. Aber sie wird von den Ereignissen überholt. Die Russen üben so starken Druck aus im Donbass, dass die ukrainische Armee gezwungen ist, ihre bereits jetzt verfügbaren Reserven in einer Gegenoffensive im Raum Kursk einzusetzen. Als Köder für die Russen. Sie hat also quasi ihre Kräfte ausgespielt, noch bevor sie sie für nächstes Jahr bereitstellen konnte. Darum kündigt Kiew jetzt wieder neue Brigaden an. Im letzten Jahr wurden die Brigaden 150 bis 159 aufgestellt, jetzt werden es die Brigaden 160 bis 169 sein. Mit diesen zehn neuen Brigaden will sie für 2025 wieder offensivfähig werden. Die Ukraine ist immer dann erfolgreich, wenn sie hoch beweglich und flink agiert. Dann kann sie Erfolge einfahren. Aber wenn das nicht der Fall ist, legt sich Russland einfach mit seinem Abnutzungskrieg drüber.

Das hieße, auch mit zehn neuen Brigaden bliebe die Ukraine Russland kräftemäßig unterlegen?

Die Russen machen massiv Verluste im Donbass aber stecken diese weg und kommen trotz der starken Gegenwehr dort Meter für Meter vorwärts. Gelingt es der Ukraine, diesen Vormarsch zu stoppen, muss sie das Gelände anschließend zurückerobern, gegen verbissen kämpfende russische Truppen. Dafür braucht die Ukraine enorme Ressourcen und sieht nach meiner Einschätzung zwei Möglichkeiten: Entweder lässt sie sich auf die direkte Konfrontation und den Abnutzungskampf ein oder sie versucht, an anderer Stelle zu wirken.

In Kursk. Auf russischem Gebiet.

Genau. Aus meiner Sicht versucht die ukrainische Armee parallel zum Abwehrkampf im Donbass, mit eigenen Mitteln auch nach Russland hineinzuwirken. Weil man in Kiew hofft, dass die russische Bevölkerung vielleicht irgendwann in Opposition zum Kreml geht und das System zusammenbricht. Auch darum greift die Ukraine mit Drohnen und neuerdings auch mit Gleitbomben in der Tiefe Russlands an.

Sie meinen die Angriffe auf Raffinerien, Flugplätze, Rüstungsbetriebe?

Da, wo es schmerzt. All diese Angriffe sollen der Bevölkerung zeigen, dass sie auch betroffen ist. Aber wir wissen letztlich, dass diese 145 Millionen Russen kaum zum Protest oder gar zur Revolution neigen.

Ließe eine solche neue Taktik den Schluss zu: Nicht einmal die Ukraine selbst glaubt daran, dass sie 2025 auf der militärischen Ebene das Ruder wird herumreißen können?

Das Fiese an einem Abnutzungskrieg ist: Man bekommt auf den ersten Blick kaum mit, was im Hintergrund abläuft. Beide Seiten haben enorme Verluste. Auf beiden Seiten rennen die Zähler herunter, und die Ukraine weiß, dass sie im Nachteil ist. Weil ihre Verbündeten wankelmütig sind und nur stückchenweise liefern, wie die USA. Oder weil sie nicht genug auf Lager haben, wie die Europäer. 12 Panzerhaubitzen aus Deutschland. Ich möchte das nicht kleinreden, aber umgelegt auf 1200 Kilometer Front – was kann damit erreicht werden?

Wenn die Ukraine 2025 in die Offensive gehen will, wird sie Offensivwaffen benötigen. Gab es in Ramstein Zusagen?

Es sollen Leopard Kampfpanzer geliefert werden, aber das sind alte Panzer, sie erreichen nicht die Qualität des Leopard II A4 und A6, die Kiew zuvor bekommen hat. Weil man selbst kaum noch etwas in den Arsenalen hat – in Europa. Oder nicht liefern will – Stichwort USA.

Die Regierung Biden könnte mehr Panzer liefern?

Eine Botschaft, die Lloyd Austin in Ramstein hätte geben müssen: „Wir liefern bis Ende des Jahres 300 M1 Kampfpanzer, damit die Ukraine 2025 offensivfähig ist.“ Die Botschaft gab es aber nicht.

Könnten die USA denn so viele Panzer entbehren?

Die Militärblogger schauen ständig auf Google Earth und analysieren penibel, was auf Panzerabstellplätzen in Russland herumsteht. Dasselbe kann man mit den USA auch machen. Da werden sie Zehntausende Fahrzeuge finden, in den trockenen Wüsten Amerikas, wo auch immer. Die könnte die US-Regierung instand setzen lassen und in die Ukraine schicken. Tut sie aber nicht. Die Russen hingegen rüsten immer weiter nach, passen sich an, ziehen neue Kräfte ein, und all diese Soldaten müssen niedergekämpft werden. Oder aber es kommt zu einer Implosion in der politischen Führung, und die Truppen ziehen sich zurück. Ich sehe hier den tatsächlichen Ansatz der Ukrainer: der Versuch, den Feind ins Herz zu treffen. Auch darum hat Präsident Wolodymyr Selenskyj in der vergangenen Woche das Unterstützertreffen in Ramstein besucht. Er fordert nachdrücklich die Erlaubnis, mit weitreichenden Westwaffen auf russisches Territorium zu wirken. Denn damit könnte die Ukraine den Druck auf Russland enorm erhöhen. Aber auch hier war Selenskyj nicht erfolgreich. Es bleibt dabei. Der Westen lässt die Ukrainer kämpfen mit viel zu geringen Mitteln und mit einem Arm auf dem Rücken gebunden.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer