DAS hat mich bei Selenskyj überrascht

Ich hatte damit gerechnet, auf einen niedergeschlagenen Präsidenten zu treffen. Nachdem Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj (46) in den vergangenen Tagen das erste Mal über eine drohende Niederlage sprach, wenn die Waffen aus den USA nicht kommen sollten, ging ich davon aus, einen frustrierten Präsidenten zu erleben. Tief enttäuscht vom Westen, wütend, resigniert – so hatte ich mir die Begegnung vorgestellt.

Aber das Gegenteil war der Fall.

Als ich Selenskyj am Dienstagmorgen vor Charkiw an den neuen Verteidigungsanlagen der Ukrainer traf, war er freundlich, fokussiert, offen und konnte trotz der Dramatik lächeln. In seiner Mahnung war er völlig klar: „Wir müssen vorbereitet sein …“

Vorbereitet sein, bedeutet in diesen Tagen in der Ukraine, sich auf noch mehr russische Angriffe einzustellen, auf Drohnen-Angriffe, auf große Offensiven der Russen, auf viele Tote. Mich erinnert das alles an den Anfang des Krieges, den ich in Kiew erlebt habe.

In den Tagen damals wurde darüber diskutiert, ob genügend Waffen in kurzer Zeit kommen würden, um das Land zu verteidigen.

Ähnlich ist es jetzt wieder, auch wenn das kaum jemand sehen will.

Jetzt heißt die Stadt, die in den Schlagzeilen ist, Charkiw. Aber das Interesse der Welt ist längst nicht mehr so hoch wie im Februar 2022, als der große Schrecken begann.

Nach dem Besuch der Verteidigungsanlagen habe ich in Charkiw auf einem Industriegelände fast 40 Minuten mit Selenskyj gesprochen. Wie sein Sohn auf den Krieg blickt, was er zu Taurus sagt und wie er mit dem Ausbleiben der Waffen umgeht.

Selenskyj, so schien es für mich, hatte keinerlei Angst vor Angriffen in Charkiw.

Er fragte sogar, ob wir das Interview nicht nach draußen verlegen sollten, trotz des Bombenalarms. Selenskyj mag keine dunklen Räume oder Keller. Er, der ehemalige Schauspieler, liebt die Freiheit.

Ukraine-Präsident Selenskyj mit BILD-Vize Paul Ronzheimer bei den Verteidigungsanlagen außerhalb von Charkiw

Was mich in dem Gespräch neben den aktuellen Debatten am meisten interessiert hat, war die Frage, ob er wirklich noch an den Sieg der Ukraine glaubt, also die Befreiung aller ukrainischen Gebiete von der russischen Armee samt Krim. Tatsächlich sprach Selenskyj sogar über eine Gegenoffensive, die geplant werde, wollte oder konnte aber keine Details nennen, wie diese ohne weitere Waffen und zu wenige Soldaten erfolgreich sein sollte.

Ich berichtete Selenskyj davon, dass ich immer mehr Menschen in der Ukraine treffe, die skeptisch sind, was die Rückeroberung des gesamten Territoriums angeht. Mein Gefühl ist, dass immer mehr Ukrainer nicht daran glauben, dass man die ganze Ukraine zurückerobern wird.

Machte auf Paul Ronzheimer einen fokussierten, optimistischen Eindruck: Wolodymyr Selenskyj während des Interviews

Die Antwort des Präsidenten kam sofort: „Das ist das Ziel. Das ist die Gerechtigkeit. Unser gesamtes Gebiet zurückzuerobern. Wie ich schon sagte, ich denke, es ist noch ein langer Weg bis dahin. Ich will nicht zu optimistisch sein, ich muss sehr realistisch sein. Wenn es darum geht, die unabhängige Ukraine zu retten, die demokratische Ukraine, die ein Teil Europas oder der zukünftigen EU ist, die Ukraine als Nation, dann müssen wir unsere Unabhängigkeit zurückgewinnen.“

Aber was bedeutet es, wenn eine weitere Gegenoffensive fehlschlägt, wann wäre es an der Zeit zu verhandeln?

Selenskyj verwies auf die diplomatischen Verhandlungen, die es in der Schweiz geben soll. Aber wie geht das ohne Russland am Tisch? Selenskyj: „Natürlich, ohne Russland. Denn wir brauchen sie dort nicht, damit sie Dinge blockieren.“

Selenskyj hat mich überrascht. Einerseits mit seiner optimistischen Stimmung trotz der schwierigen bis dramatischen Situation. Mit seiner Furchtlosigkeit im Angesicht der russischen Armee, ganz gleich, wie stark sie sein mag.


Kommentare

Eine Antwort zu „DAS hat mich bei Selenskyj überrascht“

  1. Der Krieg in Ukraine muß weiter gehen

    Nicht nur wegen Selenskyj, der weiß, daß er hingerichtet wird,
    sobald der Krieg vorüber ist und der weiß, daß er nirgendwohin
    fliehen könnte, weil man ihn überall erkennen würde.

    Es liegt hauptsächlich an den enormen Verlusten des
    US-Deep-State (und dessen Vasallen), daß man die UKR
    unmöglich aufgeben kann, weil das finanzielle Fiasko
    sie ALLE vom Sockel reißen würde …

    was eher früher als später sowieso passiert

Schreibe einen Kommentar