Drogengewalt wird zum Problem für Schock-Reformer Milei

(von Alexander Busch)

Javier Milei sah den Staat als Feind. Nun gerät in einer Metropole die Gewalt außer Kontrolle. Banden erschießen wahllos Zivilisten – und bringen den Präsidenten in Erklärungsnot.

Buenos Aires. Seit drei Wochen wirkt die argentinische Großstadt Rosario nachts wie ausgestorben: Die Straßen sind leer, die meisten Restaurants und Tankstellen bleiben geschlossen. Busse und Taxis fahren selten, neben der Polizei trauen sich nur noch Fahrer von Essens-Lieferdiensten auf die Straße.

Der Grund für den Ausnahmezustand: In der 1,2 Millionen Einwohner zählenden Hafenstadt am Río Paraná haben Drogenbanden dem Gouverneur des Bundesstaats Santa Fé den Krieg erklärt. Vor einem Monat drohten sie damit, sollte die Polizei nicht von ihnen ablassen, wahllos Zivilisten zu töten. Wenig später machten sie Ernst und erschossen zwei Taxifahrer, einen Busfahrer und den Mitarbeiter einer Spedition.

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„Ich betrachte den Staat als Feind“, sagte Argentiniens neuer Präsident Javier Milei oft, „der Liberalismus wurde geschaffen, um die Menschen zu befreien.“ Die Epoche der staatlichen Unterdrückung müsse jetzt endlich enden, nun müsse es darum gehen, dass sich die Bürger selbst organisieren. Ihnen stehe selbstverständlich das Recht zu, Waffen zu tragen und Drogen zu nehmen.

So viel zu seiner Theorie. Was Milei jetzt aber erlebt, ist die harte Konfrontation mit der Wirklichkeit. So muss der argentinische Präsident im Drogenbrennpunkt Rosario gegen das ankämpfen, was er als selbst erklärter Anarchokapitalist eigentlich legitimieren will.

Nun werde sich zeigen, wie viele von seinen Ideen tatsächlich übrig blieben, sagt Joaquín Morales, politischer Kolumnist für die konservative Zeitung „La Nación“. Denn die Drogenbanden in Rosario agierten exakt nach dem von ihm vorgezeichneten libertären Muster, es gehe um das Prinzip der Marktwirtschaft: Die Menschen verlangten nach Drogen, und die Banden hätten es sich zur Aufgabe gemacht, diese Nachfrage zu befriedigen.

Argentiniens Sicherheitsministerin Patricia Bullrich begrüßt in Rosario die örtliche Drogenpolizei.

Was nicht heiße, dass Terror und Gewalt für Milei erstrebenswert seien. Der Drogenmarkt müsse liberalisiert werden, um die kriminellen Folgeerscheinungen des Geschäfts zu beseitigen, fordern die Libertären. Doch dazu ist von Milei jetzt nichts zu hören.

Der Widerspruch zwischen dem libertären Selbstbild des Präsidenten einerseits und einer von Drogenkriminalität bedrohten Gesellschaft andererseits erklärt, warum Milei sich in Rosario zurückhält. Er selbst ist dort bis heute nicht in Erscheinung getreten. Zwar beteuert er, seine Regierung werde nicht vor der organisierten Kriminalität zurückweichen.  Doch welche Strategie er gegen die überbordende Gewalt anwenden will, darüber hüllt er sich in Schweigen.

Vorgeschickt hat er Patricia Bullrich, seine Ministerin für Sicherheit. Bullrich war seine im Wahlkampf unterlegene Gegenkandidatin der Mitte-Partei PRO. Nun bekleidet sie einen der schwierigsten Jobs im Land. Sie ist es, die die eskalierende Gewalt der immer mächtiger werdenden Drogenclans unter Kontrolle bringen muss. Und wie zentral das Thema ist, signalisieren Umfragen klar und deutlich: Neben der Hochinflation und der Rezession ist die allgegenwärtige Kriminalität die größte Sorge der argentinischen Gesellschaft.

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Bullrich war bereits unter dem Rechts-Mitte-Präsidenten Mauricio Macri (2015 bis 2019) für die Sicherheit zuständig. Während der Militärdiktatur der 1970er-Jahre agierte sie in der städtischen Linksguerilla – sie bestreitet jedoch, selbst zur Waffe gegriffen zu haben. Inzwischen hat sich die aus einer wohlhabenden Familie stammende 67-Jährige zu einer Law-and-Order-Politikerin gewandelt.

Militärs haben keine Erfahrung mit Kriminalität

In Rosario ließ sie nun Einheiten der Bundespolizei auffahren. Sie möchte die Gefährdung durch die Drogenmafia juristisch als „terroristische Bedrohung“ einstufen. Das jedoch wäre nur mit einem neuen Gesetz möglich, wofür die Regierung allerdings keine Mehrheit im Kongress besitzt.

Beschlagnahmte Waffen von argentinischen Drogenbanden.

Auch die Entsendung des Militärs zur Verbrechensbekämpfung ist gesetzlich nicht vorgesehen, wäre aber per präsidialem Dekret möglich. Doch politische Analysten zweifeln, ob Milei dieses Risiko eingehen würde. Denn erstens haben die Militärs keine Erfahrung mit der kleinteiligen Straßenkriminalität. Und zweitens fürchtet die Führung, dass die Soldaten schnell von den Drogengangs korrumpiert würden.

Die Stadt Rosario ist seit zwei Dekaden das Zentrum des Drogenhandels in Argentinien. Im Flusshafen der reichen Agrarregion werden nicht nur Mais, Weizen und Soja verschifft. Die Flussstadt ist auch ein wichtiger Umschlagplatz für Kokain und Marihuana, das aus Bolivien und Paraguay herangebracht wird. Das Gros wird nach Europa geschmuggelt, ein Teil bleibt zurück für den lokalen Markt.

Und dieser Teil ist die Geschäftsgrundlage der Drogengangs. 50 Gruppen kämpfen um Marktanteile – brutal und skrupellos. Die größeren wie „Los Monos“ werden von ihren einsitzenden Führern aus den Gefängnissen gesteuert. Mit 22 Morden pro 100.000 Einwohnern ist die Gewaltrate Rosarios mehr als fünfmal so hoch wie im nationalen Durchschnitt.

Provinzgouverneur Maximilliano Pullaro hat seit seinem Amtsantritt im Dezember 2023 die Haftbedingungen der inhaftierten Clanmitglieder erschwert. Die Sicherheitsbehörden des Bundesstaats veröffentlichten Fotos von halbnackten, zusammengepferchten Gefängnisinsassen – so wie sie El Salvadors Präsident Nayib Bukele aus seinen Haftanstalten regelmäßig zeigt. Diese Politik der harten Hand hat Bukele zum beliebtesten Politiker Lateinamerikas werden lassen.

Der Hafen von Rosario: Umschlagplatz für Getreide und Drogen

An der Situation in Rosario sind auch die bisherigen Regierungen nicht unschuldig, wie Cornelia Schmidt-Liermann betont. Die ehemalige Vizepräsidentin des Drogenausschusses im Parlament kritisiert, dass falsche Toleranz das Problem über lange Zeiträume verschärft hätte. Zudem hätten sich Drogenbanden und lokale Behördenvertreter arrangiert, seit Jahren arbeiteten sie nahtlos zusammen.

Esteban Santantino, Sicherheitsexperte der Provinzregierung, verweist auf eine Besonderheit der Bandenszene in Rosario. Die Drogenkriminalität funktioniere hier nicht innerhalb der hierarchischen Strukturen und festen Loyalitäten von Kartellen, wie sonst oft in Südamerika. In „improvisierten Allianzen“ schlössen sich Drogenbanden für Auftragsarbeiten kurzfristig zusammen, anschließend gehe man wieder getrennte Wege. „Das organisierte Verbrechen in Rosario ist ziemlich desorganisiert.“

Das müsste dem selbst ernannten Anarchokapitalisten Milei eigentlich gefallen, doch als Präsident betrachtet er die Probleme heute möglicherweise aus einer anderen Perspektive.